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Adriaan van Dis: Das verborgene Leben meiner Mutter

Eigene Lebenszusammenhänge anzudeuten und damit in Beiträgen zu argumentieren, geht immer ein Zögern voraus, eine Verunsicherung, ob man das, was man indirekt über sich selbst sagt, auch wirklich öffentlich machen will. Wenn ich über Adriaan van Dis schreibe oder genauer: über die beiden Romane von ihm, die ich kenne, dann liegen solche persönlichen Zusammenhänge aber auf der Hand. Denn es gibt wohl bisher keinen Autor, auf den ich so sehr über die Buchtitel aufmerksam wurde, wie den Niederländer. Warum das so ist, verraten diese Titel. Da war zunächst vor rund vier Jahren sein wunderbarer, im Hanser Verlag erschienener Roman Ein feiner Herr und ein armer Hund, in dem ein bürgerlicher Flaneur, ein etwas weltfremder Intellektueller, die Welt aus einer anderen Perspektive kennenlernt, als ihm ein streunender Hund begegnet, der sich ihm anschließt. Die literarische Verarbeitung einer innigen Hund-Mensch-Beziehung – was mich daran interessiert, brauche ich nicht weiter zu erklären.

Und jetzt Die verborgene Geschichte meiner Mutter. Den Verlust der eigenen im Nacken wird man für derlei Titel sensibler. Aufmerksam geworden  saß ich trotzdem einem Irrtum auf, ehrlicher gesagt: einem nur oberflächlichen Lesen der Verlagsankündigung zum Roman. Adriaan van Dis erzähle das Leben seiner Mutter, das war in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Das tut er auch, ohne Zweifel. Und es ist ein durchaus interessantes Leben, das ebenso gebunden ist an die niederländische Polderlandschaft wie an die Kolonialgeschichte des Königreiches in Niederländisch-Indien, dem in den Folgen der Wirren des 2. Weltkriegs seit 1949 unabhängigen Indonesien. Dorthin hatte es die Mutter mit ihrem einheimischen ersten Mann verschlagen, sie bekam dreiTöchter und lebte in der Kolonie mit all ihren Privilegien und Entbehrungen. Dort lernte sie auch ihren zweiten Mann kennen, den Vater Adriaan van Dis‘, mit dem sie allerdings nicht verheiratet war. Dies alles erfährt der Ich-Erzähler, bei dem es sich ohne angestrengtes Bemühen um die Verschleierung autobiographischer Zusammenhänge um den Autor selbst handelt, erst in den Gesprächen mit der Mutter.

Hier setzt der zweite, vielleicht kann man ja sogar sagen: der eigentliche, in meiner Wahrnehmung ganz sicher der interessantere Erzählstrang an. Denn eingebettet ist die Lebensgeschichte der Frau in die Beziehungsgeschichte zwischen Mutter und Sohn. Letztere ist durch eine auffallende Distanz und Fremdheit geprägt, die der Sohn überwinden will, indem er gemeinsam mit seiner Mutter deren Leben rekonstruiert, das Leben einer Frau, die sich, um es eher vorsichtig festzuhalten, nicht gerade durch eine große Warmherzigkeit auszeichnet. Der Leser begegnet ihr zum ersten Mal gemeinsam mit dem Erzähler im hohen Alter von 98 Jahren in einen Altenwohnstift. Sie hat ihren in Paris lebenden Sohn hergenötigt, damit sie ihren Geburtstag nicht unter alten Leuten, wie sie sagt, feiern muss. Aus diesem Besuch entspinnt sich die Lebensrecherche, die in einen „Schreibvertrag“ mit dem Sohn mündet. Denn sie will ihr Leben nur preis geben, wenn der Sohn im Gegenzug dafür sorgt, dass sie es beenden kann.

Wir schworen gemeinsam: Ich würde ihr ein Leben auf Papier geben, oder noch besser, ein neues Leben. Ein Leben, in dem sie wieder gut laufen konnte, ihre Lippen schminkte, weite Röcke trug und ihre feuerfesten Kostüme. Eine tanzende Mutter wolllte ich aufführen, eine kämpfende Mutter. Die starke Frau meiner Jugend.
„Noch ein Leben dazu“ – brummelte sie zufrieden -, „aber dafür will ich was zurück: Eine Hand wäscht die andere.“
„Ich werde alle Einkäufe für dich erledigen, den Küchenboden wischen …“
„Pillen. Du kriegst eine Geschichte, ich eine Pille.“
Wir unterschrieben den Vertrag.

Den Todeswunsch der Mutter nimmt der Ich-Erzähler zunächst nicht ernst. Aus diesem Missverständnis heraus entwickelt sich ein bitterernstes Ringen der beiden um ihre Geschichte, ein RIngen, das in einzelnen Situationen durchaus komische Züge trägt, im Ganzen aber seine traurige Grundierung nicht leugnen kann. Am Ende gewinnt der Ich-Erzähler zwar die Geschichte seiner Mutter, aber deren Kenntnis hebt die Distanz nicht auf. So stirbt die Mutter schließlich auch gerade dann, als er sich für wenige Tage wieder in Paris befindet zu einem Treffen, das er nicht absagen konnte.

Schließlich hat der Ich-Erzähler dem Leben der Mutter schließlich einen Text abgerungen, einen Text von großer Eindringlichkeit, der Leben in Literatur überführt. Doch der Preis ist hoch. So wie sich nämlich ihr Leben aus dem Verborgenen erzählerisch rekonstruieren lässt, so lässt sich die Beziehung zwischen Mutter und Sohn eben nicht regenerieren. Letztere bleibt über den Tod der Mutter hinaus, was sie vorher war – ungeklärt.


Adriaan van Dis: Das verborgene Leben meiner Mutter. Roman. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. – München: Droemer Verlag 2016 (19,99 €)