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Dierk Wolters: Die Hundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage

Ja, genau. Der Gedanke, der Ihnen beim Titel des Buches gleich in den Sinn gekommen ist, ist vollkommen richtig. Die erzählte Geschichte nimmt ihren Ausgangspunkt in Günther Jauchs „Wer wird Millionär“. Dierk Wolters – er ist im Übrigen Kulturredakteur bei der Frankfurter Neuen Presse – hat irgendwo erwähnt, ihn habe die Situation, in die sich die Kandidaten in dieser Quizshow begeben und der sie sich aussetzen, ausgesprochen interessiert; daraus sei der Erzähltext erwachsen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen da so uneingeschränkt folgen kann. Ich würde diese „Wer wird Millionär“-Episode als Ausgangspunkt nehmen, von dem aus vieles, aber eben nicht alles angefangen hat und aus dem sich der Plot entwickelt. Aber dieser Auftritt bei Jauch ist nicht der eigentliche Plot, finde ich. Vielleicht sollte ich den Handlungsgang zuerst mal kurz skizzieren. Einverstanden?

Also, die ganze Geschichte wird im Rückblick erzählt, und zwar von einem Ich-Erzähler, der nicht den Eindruck macht, als sei er wortkarg, was die eigene Person betrifft. Es handelt sich um den 64-jährigen, kurz vor seiner Pensionierung stehenden Lehrer für Latein und Geschichte Rüdiger Meierle. Der Name soll sicherlich auf Prototypisches der Figur hinweisen, mag sein auch  auf Spießiges – Meierle, der kleine Meier – aber lassen wir das, denn es spielt in diesem Roman – wenn man ihn denn als Roman bezeichnen will – eigentlich keine Rolle. Dieser Rüdiger Meierle befindet sich auf einer Art Balkon oder Terrasse in einer Hotelanlage auf Korsika, wohin er mit seiner Frau Inge – noch so ein Name! – seit 25 Jahren in den Herbstferien fährt, um dort vor dem mitteleuropäischen Winter noch einmal Licht und Sonne zu tanken, wie er sagt. Während Inge im Liegestuhl döst, schreibt er an einem Text, den er unbedingt fertig bekommen möchte. Immer wieder wirft er einen Blick auf seine „aus dem Leim“ gegangene Frau, betrachtet sie aber zugleich mit Sympathie, Wärme, von mir aus auch mit Liebe. Er spöttelt zugleich über ihre Bingoabende, die Inge gerne besucht, während er lieber alleine zuhause bleibt. Insgeheim bewundert er sie aber wegen ihrer, na heute nennt man das wohl: Sozialkompetenzen. Sie geht halt gerne unter Leute, er zieht sich lieber zurück und bezeichnet sich auch an späterer Stelle des Romans als Sozialphobiker. Ohne Zweifel befällt ihn ein Unbehagen, wenn er unter Leute gehen muss. Eine wirkliche Angstpsychose ist das aber nicht; da übertreibt er, wie nicht selten. Überhaupt die Übertreibungen, vielleicht muss ich darauf später noch einmal eingehen.

Was das mit „Wer wird Millionär“ zu tun hat? Ich kann Ihren Einwurf gut verstehen, vielleicht auch Ihren stillschweigend und vornehm zurückgehaltenen Vorwurf, warum ich nicht auf den Punkt komme. Es gibt einige wenige Besprechungen des Buches, ein Radiobeitrag ist mir noch bsonders im Gedächtnis. Die konzentrieren sich unheimlich auf diesen Auftritt bei „Wer wird Millionär“ und die Art und Weise, wie das Ganze literarisch entfaltet und aufgearbeitet wird. Man muss aber zugleich sehen, dass dieser Auftritt im Fernsehen nach rund einem Drittel des Buches vorbei ist und es viel mehr um die Folgen geht. In erster Linie hat die Geschichte etwas mit dem Text zu tun, an dem Rüdiger Meierle schon seit mehreren Tagen schreibt. Genauer: Was wir lesen, ist dieser Text. Darin verarbeitet er seine ‚Sozialphobie‘ … wobei … „verarbeiten“? Es ist mehr ein Ausstellen, ein Nach-außen-bringen. Jedenfalls leitet er das, was er als seine ‚Sozialphobie‘ benennt aus einer Art Schlüsselerlebnis ab, und das wiederum widerfuhr ihm bei seinem Kandidatenauftritt in der Quizshow.

Zu diesem Auftritt bei Günther Jauch kam Rüdiger Meierle, weil seine Frau Inge ihn dort angemeldet hatte. Das wiederum tat sie, weil sie ihren Rüdiger für einen ausgesprochen breit gebildeten Mann hielt oder vielleicht auch noch immer hält. Eine Sichtweise, so jedenfalls hat es den Anschein, der Rüdiger selbst nur höchst widerwillig widersprochen hätte, wäre er dazu aufgefordert worden. Jedenfalls nimmt sein Auftritt seinen Lauf, er schafft locker den Sprung auf den Kandidatenstuhl, entscheidet sich für einen vierten Joker, verzichtet damit auf die Absicherung, bei einer falschen Antwort ’nur‘ auf 16.000 € abzurutschen, geht locker und souverän durch die Fragen und steht schließlich vollkommen unbehelligt vor der Einhundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage. Hier wird er nun konfrontiert mit einer Frage, die wie für ihn als Altphilologe und Historiker gemacht zu sein scheint. Gefragt wird nämlich – und zwar wie oft in dieser Quizshow in etwas verklausulierter Weise – nach der etymologischen Bedeutung des Wortes „Tribüne“.

Also, das macht Dierk Wolters handwerklich wirklich gut und nutzt die Möglichkeiten der Innenperspektive des Ich-Erzählers. Man kann als Leser nicht einmal eindeutig sagen: der Kandidat weiß es nicht. Aber er zögert, wird plötzlich unsicher, zweifelt. Dann greift er zum sogenannten Telefonjoker. Den hatte er aber eigentlich für andere Wissensbereiche eingeplant, und deshalb ist er sich ziemlich sicher, dass der das nicht weiß. Zumindest überzeugt ihn die Antwort nicht, so dass er im zweiten Schritt den Publikumsjoker einsetzt. Wer die Quizsendung kennt, weiß, was damit gemeint ist. Diejenigen, die glauben, die Antwort zu kennen, werden gebeten aufzustehen. Der Kandidat wählt eine dieser Personen aus. Folgt er ihrer Antwort und ist sie richtig, so kommt der Kandidat weiter und der Publikumsjoker erhält 500 €. Meierle entscheidet sich für eine junge, blonde Frau, findet ihre Antwort plausibel, kann ihre Einwände gegen eine naheliegende Alternative nachvollziehen, folgt ihr – ja, und scheitert. Die Antwort war falsch.

Nein, nein, da würde ich widersprechen. Klar, diese Entwicklung war absehbar, die ganze Erzählkonstruktion dieser Episode läuft darauf hinaus. Aber es ist weder effekthascherisch noch trivial, und zwar nicht zuletzt, weil es dem Kandidaten nicht ums Geld geht. Wenn Sie erlauben, lese ich eine Passage vor:

Mein Problem war, ich sagte es schon, dass ich den Halt verloren hatte. Nicht nur den Halt im Moment, sondern die Verfassung, die ich meinem Leben gegeben hatte. In diesem Moment stand für mich in Frage, was ich zu meinem Wissens- und Hoheits- und Herrschergebiet gemacht hatte. Ich musste da passen, wo ich nie hätte passen dürfen – da, wo ich ganz ich war. Verzeihen Sie, wenn ich so viel von mir rede. Ich tue das nur, um die Katastrophe, die sich anbahnte, einigermaßen zu erklären, und ohne sie wäre immerhin all das andere – all das, weswegen ich jetzt hier sitze und dies aufschreibe – nie passiert. Die Katastrophe umfasste weit mehr als den Verlust von – Geld! Es ging um jenes Wesens- und Wissenszentrum meines Lebens, das ich mir zum Ankerpunkt auserkoren hatte.

Stramme Worte, nicht wahr. Das Problem liegt nicht in einer vermeintlich effekthascherischen Erzählkonstruktion, das Problem liegt in der Figur. Es scheint alles irgendwie überzogen. Nichts dagegen einzuwenden, wenn sich jemand über sein Wissen, seine Bildung definiert und daraus zumindest Teile seines Selbstbewusstseins ableitet. Aber solchen Absolutheitskonstruktionen – ‚Wesenszentrum‘, ‚Wissenszentrum‘ – machen ihn eher unglaubwürdig. Zumindest zeigen solche Selbstzuschreibungen eine ausgesprochene Verliebtheit, aber nur in sich selbst. Interessant wird das Ganze zunächst trotzdem, weil hier jetzt eine zweite Figur ins Rampenlicht rückt, die junge Frau nämlich, die die falsche Antwort gegeben hat. Keine Figur wird so genau beschrieben wie sie, sowohl in ihrer äußeren Erscheinung, als auch in ihrem gesamten Auftreten. Diese Julia Schlenkel, so heißt sie, hat von Beginn an etwas Ätherisches … nein, der Begriff ist zu hoch, eher etwas Wächsernes. Sie erscheint unbeholfen, unsicher, zerbrechlich. Im Repertoire der Männerphantasien nimmt sie die Rolle der prototypisch schwachen Frau ein. Meierle erkennt sogleich in ihr so etwas wie eine Wesensverwandte, merkt aber nicht, dass sie nichts mehr ist als eine Projektionsfläche. Das aber wiederum führt dazu, dass er das, was in der Folge der falsch empfohlenen Antwort über die junge Frau einbricht, umso mehr auch auf sich selbst beziehen kann.

Ich kann zumindest versuchen zu erklären, wie ich das meine. Schnell bricht nach der Sendung über die junge Frau ein Shitstorm an medialen Empörungsgesten herein, der – so viel lässt sich sagen – die junge Frau diffamiert und in die Einsamkeit treibt.

Genau, wir kommen jetzt zum zweiten, wie ich finde eigentlichen Erzählstrang des Buches. Eine Schwäche des Romans ist allerdings, dass die öffentliche Hetzjagd auf die Frau zwar mehrfach erwähnt wird, aber nur äußerst punktuell konkret in Erscheinung tritt. Hier hat der Text ein erzählerisches Potential überhaupt nicht genutzt. Heißt: All das, was der Frau widerfährt, wird vage erwähnt, behauptet, aber nicht erzählt. Es reicht aber allemal, dass Kandidat und ‚Jokerfrau‘ Kontakt zueinander finden, sich kennen lernen und ein Verhältnis miteinander beginnen.

Ich gebe zu, ich habe mir die Frage, ob das Kitsch sei, bis zu Ihrem Einwand gerade nicht gestellt. Aber … nein! Wenn jede zufällige Begegnung zweier Figuren, die dann durch diesen Zufall schicksalhaft miteinander verbunden werden, Kitsch wäre, dann wäre auch Max Frischs „Homo Faber“ in einem zentralen Erzählstrang Kitsch. Da werden wir uns sicherlich schnell einig, dass dem nicht so ist. Das Problem des Textes liegt darin, dass er in sich einfach nicht stimmig ist.

Schauen Sie, der Leser wird in eine erzählerische Welt eingeführt, die aus seiner eigenen Gegenwart im Jahr 2014 oder 2015 erwachsen zu sein scheint. Raumausstattung, Requisiten, Figurenverhalten, all das ist uns als Gegenwärtiges bekannt. Dann aber heißt es im Roman plötzlich, der Auftritt in der Quizshow und die Erstbegegnung Rüdiger Meierles mit Julia Schlenkel liege zwanzig Jahre zurück. Das war das erste Mal, wo ich über die Zeitangabe im Roman stutzte, denn vor zwanzig Jahren gab es die Sendung noch gar nicht. Ich gebe zu, ich habe es gegoogelt, um mich zu vergewissern. Auf S. 119 erfährt der Leser dann aber, dass die beiden sich im Jahr 2012 kennengelernt hätten. Demnach aber müsste, wenn das Ganze wie gesagt zwanzig Jahre her ist, der Roman im Jahr 2032 spielen. Dafür aber ist er – Sie entschuldigen bitte die etwas altbackene Formulierung – viel zu „heutig“, so als sei die Zeit seither stehen geblieben, als wären Lebenszusammenhänge wie eingefroren. Dieser Vorausgriff in die Zukunft wird in dem Erzähltext in keiner Weise aufgenommen und kenntlich gemacht, geschweige denn ausgestaltet. Da bleibt alles in einem zeitenthobenen Dunst.

Bitte verstehen Sie mich nicht miss. Es geht nicht um die Erwartung, als Leser alles haarklein erklärt zu bekommen. Es geht um Stimmigkeit der Erzählkonstruktion, und die ist nicht gegeben. Um es an einem anderen Aspekt zu verdeutlichen. Das Verhältnis der beiden Hauptfiguren dauert acht Jahre. Punkt. Mehr kann man dazu nicht sagen. Der Leser erfährt wirklich nichts. Wie gestaltete sich diese Beziehung in den Jahren? Wie war die Ehe mit Inge? Was veränderte sich? Wie konnte es gelingen, dass diese Beziehung im verborgenen blieb? Welche Konsequenzen hatte das Verhältnis für die Figuren, welche für deren konkrete Alltagsbewältigung? Man erfährt den Anlass für das Scheitern der Beziehung, erwähnt – ich betone: erwähnt, nicht mehr – wird die vollkommmene Isolation, in die sich die Frau begeben hat, und das war’s. Und da das alles ja nun überhaupt nicht erzählt wird, erscheint es auch noch so, als sei das alles völlig normal.

Am Ende steht, wenn man es ganz genau nimmt, der Abschluss der Schreibarbeit. Dem ist ein Wiedersehen zwischen Rüdiger Meierle und Julia Schlenkel in einem Restaurant in Calvi, der korsischen Hafenstadt, vorgeschaltet. Meierle vermutet sogleich, diese Begegnung sei kein Zufall, sondern Kalkül der Frau. Mir erscheint es eher als eine recht plumpe Erzählmechanik. Die Frau hat ihr Äußeres verändert, aber nicht ihr Wesen. Am Folgetag geht er erneut heimlich zu ihr, es ist zunächst wie früher, aber als sie ihn massiv drängt, bei ihr zu bleiben, bringt er sie um. Geradezu perfide ist es, dass er der Frau auch noch eine Art suizidal geprägtes Einverständnis unterstellt, als er sie erstickt.

Nein, Sie haben recht, mir hat der Roman überhaupt nicht gefallen. Egomanen können ja etwas Interessantes haben, aber dieser Rüdiger Meierle ist auf eine furchtbar langweilige Art – pardon! – zum Kotzen. Zudem, und das ist wohl für mich das Entscheidende, ist der Roman in weiten Teilen schlecht gamacht. Da gibt es gravierende inhaltliche Lücken und Unklarheiten, so als sei das, was hier aufgeschrieben wurde, der Entwurf zu einem Roman, aber nicht der Roman selbst. Ich weiß, es ist ein harsches Urteil, aber es gibt eigentlich nur einen einzigen Aspekt, der mich stutzen lässt.

Es hat mit dem Roman nichts zu tun. Aber er ist nun mal bei weissbooks.w erschienen, also dem Verlag von Rainer Weiss und Anya Schutzbach. Die kommen ja beide bekanntlich von Suhrkamp. Und vor allen Dingen Rainer Weiss hat ja nun über viele Jahre das Programm von Suhrkamp maßgeblich mitgeprägt. Dass einem Mann wie ihm solche Dinge wie die benannten entgangen sein sollten, kann ich mir eigentlich nur schwer vorstellen.

Na, letztlich heißt das, dass mir vielleicht Wesentliches entgangen ist, dass ich Dierk Wolters‘  Die Einhundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage vielleicht doch nicht verstanden habe. Aber ehrlich gesagt …


Dierk Wolters: Die Einhundertfünfundzwanzigtausend-Euro-Frage. – Frankfurt am Main: Weisbooks GmbH 2015 (16,90 €)