You are currently viewing Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel

Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel

Es gibt noch einige nicht ins Deutsche übersetzte Texte von Henning Mankell – vor allem Dramen, Jugendbücher und einige wenige Romane -, denen sich der Zsolnay Verlag hoffentlich noch annehmen wird. Aber seinen definitiv letzten Roman zu lesen, den Mankell vor seinem Tod noch fertigstellen und veröffentlichen konnte, ist an sich schon ein trauriges Unterfangen. Dass es vielleicht einer seiner stärksten Romane ist, macht die Trauer um den Verlust dieser Stimme nicht kleiner, im Gegenteil.

Liest man Die schwedischen Gummistiefel, so drängt sich im Laufe der Lektüre vielleicht auch anderen Leser immer stärker eine Erinnerung auf. Die Erinnerung nämlich an John Donnes, mittlerweile fast 400 Jahre alte und zum literarischen Topos gewordene Meditation, die da beginnt: „Niemand ist eine Insel.“ Sie stellt sich ein aus zweierlei Gründen, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. Je weiter man nämlich in den Erzählfluss des Romans eintaucht, Landschaft und Menschen immer näher heranrücken, desto mehr ist man geneigt, auf John Donnes zitierte Bemerkung mit einem entschiedenen „Doch!“ zu antworten. „Genau das. Der Mensch ist eine Insel, mag sein in einem Schärengarten, in dem die Entfernungen zwischen den einzelnen Inseln nicht so groß ist. Zweifellos auch nicht als erstrebenswerter Zustand, eher beklagenswert. Aber dennoch eine Insel.“ Zugleich aber drängt sich der andere Eindruck auf. „Und darum,“ so am Ende von John Donnes Meditation, die Hemingways berühmtem Roman den Titel gegeben hat, „frag nie, wem die Stunde schlägt. Sie schlägt dir.“ Genauso hat es den Anschein. Es wird nicht übermäßig gestorben in diesem Roman, aber die Hauptfigur, Frederik Welin, fühlt sich denen, die sterben, doch verbunden, auch wenn er nicht einmal immer sagen kann, auf welche Weise. Sie gehören auf ihre je eigene Art zu seinem Umfeld, sie sterben an Krankheiten, Herzinfarkt, Schlaganfall, an denen Menschen seines Alters sterben können. Er registriert das sehr genau, er lässt die Tode an sich ran und – um das Bild aufzugreifen – hört, wem die Stunde schlägt, einen Ton, der immer lauter zu werden scheint.

Frederik Welin ist dem Mankell-Leser bekannt. Er ist schon die Hauptfigur in seinem 2006  (deutsch 2007) erschienenen Roman Die italienischen Schuhe, an den die Handlung acht Jahre später anknüpft. Die eine oder andere Figur aus dem älteren Roman taucht wieder auf, die Beziehung des Arztes zu seiner Tochter, von deren Existenz er erst im Laufe des ersten Romans erfuhr, bildet einen zentralen Erzählstrang, aber man kann Die schwedischen Gummistiefel problemlos auch ohne Vorkenntnisse lesen. Alle zentralen Informationen werden dem Leser (noch einmal) im Erzählfortlauf mitgeteilt. Frederik Welin hatte sich vor Jahren auf die kleine Schäreninsel am östlichen Rand des Stockholm-Archipels zurückgezogen, nachdem ihm ein ärztlicher Kunstfehler unterlaufen war und er irrtümlich einer Frau den falschen Arm amputiert hatte. Dort hatte ihn eine ehemalige Lebensgefährtin aufgesucht, mit der er, ohne es zu wissen, eine gemeinsame Tochter hatte. Sie war unheilbar an Krebs erkrankt und starb noch im Laufe des ersten Romans. Zuvor aber hatte sie für die erste Begegnung zwischen Vater und Tochter gesorgt.

Die Handlung setzt im letzten Roman Die schwedischen Gummistiefel acht Jahre später ein. Fredrik Welin lebt immer noch auf seiner Schäreninsel so dahin – und das ist gar nicht abfällig gemeint. Er hält einen lockeren und latent konftlktgeladenen Kontakt zu seiner Tochter, er nimmt immer noch, sommers wie winters, sein tägliches Bad im Meer, er hat eine lockere, pragmatische Beziehung zu seinen Schärennachbarn. Die Person, die ihm am nächsten steht, ist nach wie vor der mittlerweile pensionierte Postbote Jansson. Der wird im Laufe des Romans noch eine wichtige Rolle einnehmen. Ab und an kommen Menschen zu ihm, die den Weg aufs Festland scheuen und bei ihm ärztlichen Rat einholen.

Die Romanentwicklung erhält ihren Anfangsimpuls dadurch, dass Welins Haus abbrennt. Er kann sich nur im letzten Augenblick aus dem brennenden Gebäude retten und nichts mitnehmen außer zwei linke Gummistiefel. Sein Haus brennt restlos ab. Aus dieser Katastrophe entwickeln sich mehrere Erzählfäden, die den Roman auf der Handlungsebene immer weiter treiben. Zunächst einmal steht der Mann materiell vor dem Nichts und ist gezwungen, im Wohnwagen der Tochter zu leben, der auf der Insel zurückgeblieben war. Vor allem aber entsteht der Verdacht, er habe selbst das Feuer gelegt, um einen Versicherungsfall herbeizuführen. In der Folge des Brandes lernt er die etwas 40-jährige Journalistin Lisa Modin kennen und verliebt sich in sie. Zwischen ihnen entwickelt sich ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis von Anziehung und Distanz. Dann taucht auch überraschend seine Tochter wieder auf und lässt die Vater-Tochter-Konflikte erneut aufflammen, und zwar in einer Entschiedenheit, die dazu führt, dass sie im Streit schließlich die Insel auch wieder mit zunächst unbekanntem Ziel verlässt.

Eine Wende bekommt die Geschichte, als sich die Tochter aus Paris meldet. Dort wurde sie beim Taschendiebstahl erwischt und verhaftet. Ihr Vater fliegt dorthin, um sie aus dem Gefängnis herauszuholen. Während des Aufenthalts in Paris brennen auf den Schäreninseln weitere Häuser, so dass der Verdacht von Frederik Welin abfällt. Am Ende des Romans wird der Erzählfaden aufgelöst, der vielleicht in die Erzählkonstruktion das eine oder andere Krimielement hineingebracht hat, sie in ihrer Gesamtanlage aber nie zum Kriminalroman hat werden lassen. Sie ist nur ein Element, das auf darüber hinaus reichende existenzielle Aspekte weist.

In den FIgurenkonstellationen der Hauptfiguren, aber auch in einer Vielzahl von Nebenerzählungen, die in Gespräche und Reflexionen des Ich-Erzählers einfließen, zeigt sich die weit reichende Unfähigkeit nahezu aller Figuren zu tieferen zwischenmenschlichen Beziehungen. Da ist fast niemand, der nicht ein durch das Leben und seine emotionalen und sozialen Verflechtungen Beschädigter ist. So sehr beschädigt, dass er oder sie vielleicht noch zur Freundschaft, kaum aber zur Liebe fähig ist. Das Verhältnis zwischen Frederik Welin und Lisa Modin wird dabei zum anschaulich erzählten Beispiel. Bei allem gegenteiligen Bemühen bleiben die FIguren sich doch auf merkwürdige und den Leser beunruhigende Weise fremd.

Dabei wird für den Arzt das Bewusstsein um sein fortschreitendes Alter – er ist mittlerweile 70 – und der immer näher heranrückende Tod zu der zentralen Perspektive, aus der heraus er die Welt wahrnimmt.

Ich fuhr nach Hörum, ohne zu wissen warum. Als ich ein Kind war, träumte ich von einer Straße, die nirgendwo hinführte, nur in die Unendlichkeit weiterging. Jetzt kam dieses Gefühl zurück. Hörum war der Name eines Ortes, den es nicht gab. Ich drosselte die Geschwindigkeit, kehrte aber nicht um. Jetzt würde ich doch die Reise ins Ungewisse unternehmen, die ich mir immer ausgemalt hatte.
Ich hielt an und stellte den Motor ab. Vorsichtig öffnete ich die Tür, als bestünde die Gefahr, dass ich jemanden störte. Um mich herum war es still. In dem dunklen Wald regte sich kein WIndhauch. Wie lange ich so stehen blieb, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich die Augen schloss und dachte, bald würde es mich nicht mehr geben. Mir blieb nur das Alter. Schließlich würde auch das zu Ende gehen, und dann blieb nichts mehr.

Dieser Textauszug schließt sich unmittelbar einem Verhör bei der Polizei an, zu dem Frederik Welin wegen des Brands seines Hauses und des Verdachts, selbst Urheber zu sein, vorgeladen worden war. Er ist weitgehend typisch für die Erzählweise, die den gesamten Roman prägt. Sie geht aus von der genauen, fast protokollhaft erscheinenden Darstellung einer Handlung, einer Darstellung, die sich durchaus über Seiten erstrecken kann. Sie wahrt dabei den Blick von außen. Selbst auf das eigene Treiben schaut der Ich-Erzähler wie auf das Handeln einer fremden Person – um dann aber immer wieder diese Beobachtungen einmünden zu lassen in die plötzlichen Gedanken über Endlichkeit, Einsamkeit und Tod. Solche Gedanken könnte man in vielfacher Reihe zitieren; es sind Sätze, die dem Leser – sorry: die mir nicht selten die Schuhe ausgezogen haben, die den eigenen Boden schwankend machen, die den tief melancholischen Blick des Erzählers, seine existenzielle Traurigkeit persönlich spürbar machen.

Dazu tragen auch die wunderbaren Landschaftsbeschreibungen bei. Unschwer sind die Stockholmer Schären als zentraler Erzählort zu erkennen; aber diese Insellandschaft ist fiktiv überformt. Und zwar stärker als in Die italienischen Schuhe. Die Insel, die Frederik Welin bewohnt, befindet sich am östlichen Rand dieses Inselarchipels, da wo es ins offene Meer ausläuft. Mehrfach wird diese Randlage angesprochen, immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es gefährlich sei, diesen Raum mit dem Boot weiter nach Osten zu verlassen, weil das Meer eine tödliche Zone ist. Am Ende wird sich auch eine Figur selbst zu Tode bringen, in dem sie mit dem eigenen Boot einfach immer weiter gen Osten fährt. Das Leben der Hauptfigur wird also nicht nur altersbiographisch, sondern auch durch seine geographische Verortung in die Nähe des Todes gerückt. Es scheint, als lebe man dort an mythischen Gewässern, an den Ufern von Acheron oder Styx, die die Grenze zur Welt der Toten markieren. Was Frederik Welin, was eigentlich allen Figuren aber im Gegensatz zu den alten Griechen fehlt ist, die Gewissheit, dass es dahinter eine Unterwelt auch tatsächlich gibt. Vielmehr gibt es keine Vorstellung von „etwas“, die ist nicht mehr möglich, es gibt nur, wie im obigen Textauszug zitiert, die Vorstellung von „nichts“.

Im Feuilleton wurde das eine oder andere Mal eine Lesart favorisiert, die dem Ende des Romans eine gewisse Versöhnlichkeit, ja sogar so etwas wie Hoffnung attestiert. Am Ende ist die Brandstiftung an den Schärenhäusern geklärt, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter deutlich versöhnlicher als zu Beginn des Romans, dieses merkwürdig ambivalente Verhältnis zwischen Welin und Lisa Modin vielleicht ein wenig weniger ambivalent, eine Dauerhaftigkeit von Vertrautheit und Freundschaft zwischen den beiden scheint durchaus möglich, ja, die Pläne, an die Stelle des niedergebrannten Hauses ein neues zu errichten, werden konkret. Und dennoch sehe ich mich nicht in der Lage, mich dieser Lesart anzuschließen. Der letzte Satz des Romans lautet: „Aber die Dunkelheit schreckte mich nicht mehr.“ Dass sie nicht schreckt, mag sein, aber heller wird die Dunkelheit dadurch nicht.

Was bleibt, ist ein großartiger, wunderbarer, in weiten Passagen geradezu poetischer Roman, der tief sich in die eigene Seele gräbt. Mankells letzter, der gewiss, ganz gewiss nicht zum letzten Mal gelesen wurde.


Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. – Wien: Paul Zsolnay Verlag  2016 (26.- €)