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Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht

Der Reflex war erwartbar. In den Feuilletonbesprechungen, die zeitnah zum Erscheinen von Sommer bei Nacht veröffentlicht wurden, wurde es augenscheinlich. Die Frankfurter Rundschau titelte am 13.02.2020: „Ermittler mit pädophiler Neigung“. Einen Tag später stellte Deutschlandfunk Kultur Jan Costin Wagners neuen Roman mit der Schlagzeile vor: „Ein Pädophiler auf der Jagd nach einem Pädophilen“. Wieder eine knappe Woche später wies Der Spiegel im Untertitel der Rezension fett gedruckt darauf hin, ein Pädophiler jage einen Kindesmörder. Angesichts des Kampfes gegen weltweit organisierte Kinderpornografie, der Grausamkeiten und Schrecknisse von Lügde und Bergisch-Gladbach sowie den vermuteten pädophilen Neigungen Prominenter und der öffentlichen Sensibilität lässt sich auch im Betrieb der Literaturkritik mit der entsprechenden Schlagzeile Aufmerksamkeit generieren. Der dabei angezeigte Sachverhalt stimmt für Jan Costin Wagners neuen Roman zwar, wird ihm aber in seiner Konstruktion und Anlage bestenfalls eingeschränkt gerecht. Wenn wiederum eine Woche später ein weiterer Beitrag im Deutschlandfunk auf diesen Erzählzusammenhang im Roman dann gar nicht eingeht, so gilt die Skepsis, ob er auf solche Weise angemessen vorgestellt wird, natürlich ebenso.

Es ist nicht zu überlesen: einer der Hauptermittler in dem Fall, den Jan Costin Wagner in seinem neuen Roman erzählt, der Kommissar Ben Neven hat pädophile Neigungen. Die gehen so weit, dass er aus der Asservatenkammer des Polizeipräsidiums einen USB-Stick mit Bildmaterial unbemerkt mitgehen lässt, sich im Kellerbüro seines Hauses diese Bilder heimlich, das heißt verborgen vor seiner Familie anschaut, erregt wird und masturbiert. Erzählt wird aber auch, dass seine Neigung einen immensen Leidensdruck schafft, dass er sie moralisch verwirft und sie sich nicht schönredet, dass sie in eine Verzweiflung einmündet, die am Ende des Romans eine unkontrollierte Kompensationshandlung auslöst.

Aber die persönliche Geschichte Ben Nevens ist nicht der einzige, in die Ermittlungsschilderungen einfließende Erzählstrang, sondern steht neben mindestens drei weiteren. Nevens Partner im Kommissariat ist Christian Sandner, der in jungen Jahren den Tod seiner Freundin sehr unmittelbar erleben musste und immer noch nicht verkraftet hat. Schließlich spielt ein älterer, mittlerweile pensionierter Polizist eine wichtige Rolle, den alle wegen seiner analytischen Fähigkeiten den „Mathematiker“ nennen. Landmann, zugleich der polizeiliche Ziehvater Ben Nevens, sieht sich im Laufe der Erzählhandlung konfrontiert mit dem Selbstmord seiner Tochter. Dessen traurige persönliche Geschichte endet wie die der Ermittler offen. Das ist sicherlich ein Hinweis darauf, dass Jan Costin Wagner hier einen Kriminalroman vorlegt hat, der auf Serie angelegt ist.

Der durchgängig personale Erzähler gewährt aber nicht nur Einblick in die Arbeit und die Gefühlslagen dieser Figurengruppe, sondern konfrontiert auch mit den Verhaltensweisen und Bewusstseinsverhältnissen von Opfern und Tätern. Von entscheidender Gewähr, dass solche Einblicke gelingen und niemals ins Reißerische abgleiten, ist Jan Costin Wagners zurückhaltende Sprache. In den kurzen Kapiteln, in denen die Perspektive jeweils einer Figur zum Erzählfokus wird, gelingt es dem Autor eindrücklich, wenig zu erzählen und dennoch viel zu sagen. Im Ungesagten liegt die besondere literarische Qualität von Sommer bei Nacht.

Dennoch weiß dieser Kriminalroman, der in der Umgebung Wiesbaden angesiedelt ist, noch nicht so zu überzeugen wie die sechs Romane der Kimmi-Joentaa-Reihe, mit denen Jan Costin Wagner vollkommen zurecht sein Renommee als anspruchsvoller Kriminalschriftsteller mit ganz eigener Stimme begründet hat. Auch wenn die Gegend und Landschaft rund ums finnische Turku, in denen diese Romane spielen, die Atmosphäre und deren Stimmung mitprägen, so ist das dennoch nicht der entscheidende Aspekt. Im Gegenteil, die Umgebung von Wiesbaden scheint da durchaus auch ein Potenzial zu haben, das Jan Costin Wagner zu gestalten versteht. Es liegt an der Figurenkonstellation.

Mit Kimmi Joentaa lernte man als Leserin oder Leser einen Kommissar kennen, der abgrundtief traurige Lebenshintergründe in die Geschichten einbrachte. Da war gleich im ersten Roman der Krebstod seiner geliebten Frau Sanna, da war später der Verlust seiner vertraut gewordenen Freundin Larissa und da ist durchgängig die von tiefer Melancholie durchzogene und von großer warmherziger Liebe geprägte Zuwendung zur Tochter, mit der Joentaa als allein erziehender Vater zusammenlebt. Diese Zusammenhänge erzeugen eine Haltung, mit denen er auch den Kriminalfällen und den darin zu Tage tretenden Schicksalen begegnet. Dabei ist er kein Einzelgänger; die Lösung der Kriminalfälle beruht auch hier auf Teamarbeit. Aber alle anderen Figuren im Ermittlungsapparat werden mit ihren eigenen Lebenszusammenhängen bestenfalls in spärlichen Skizzen sichtbar. Die beeindruckend dichte Atmosphäre der Kimmi-Joentaa-Romane entstand durch die erzählerische Verflechtung der jeweiligen Kriminalfälle, der darin sich artikulierenden Schicksale und dem eigentümlichen Charakter des Hauptermittlers.

Das ist in Sommer bei Nacht anders. Die Multiplikation trauriger Lebensschicksale auf gleich eine ganze Reihe von Ermittlerfiguren tut dem Roman nicht gut. Es ist zu viel des, nein, nicht Guten, sondern gerade des Schrecklichen und Traurigen, das Lebenszusammenhänge ausmacht. Es ist so umfassend und so erdrückend, dass es dem vielfachen Kindesmissbrauch, der eigentlich verhandelt wird, die Wucht nimmt, die ebenso eigentlich deutlich werden sollte. Sollte, was anzunehmen ist, hier mit Sommer bei Nacht eine neue Reihe mit neuen Ermittlern vorgelegt worden sein, so ist das ein vielversprechender Anfang. Mehr aber ist es noch nicht.


Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht. Roman. – Berlin: Galiani Verlag 2020

Nachlese

Eine lesenswerte Vorstellung des Kriminalromans findet man unter anderem auch auf Zeichen & Zeiten.

Das Beitragsbild entstand auf der Grundlage des Fotos von Robert Balog auf Pixabay