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Martin Walser: Ein fliehendes Pferd

Sitzt man an einem der Außentische eines der zahlreichen Cafés an der Überlinger Seepromenade, gleich dort am Rand, wo sich die Jogger, Flaneure, Touristen vorbei bewegen, und beginnt, Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd zu lesen, so kann man sich das Aufschauen sparen. Der Blick ins Buch sieht mehr, Genaueres, und das beiläufig. Denn eigentlich geht es um die beobachtenden Empfindungen der Hauptfigur, des Endvierzigers Helmut Halm.

Er verlegte seinen Blick auch wieder auf die Leute, die zu dicht an ihm vorbeipromenierten. Man sah wenig. Von dem wenigen aber zuviel. Er verspürte eine Art hoffnungslosen Hungers nach diesen hell- und leichtbekleideten Braungebrannten. Die sahen hier schöner aus als daheim in Stuttgart. Von sich selbst hatte er dieses Gefühl nicht. Er kam sich in hellen Hosen komisch vor. Wenn er keine Jacke anhatte, sah man von ihm wahrscheinlich nichts als seinen Bauch. Nach acht Tagen würde ihm das egal sein. Am dritten Tag noch nicht. So wenig wie die gräßlich gerötete Haut. Nach acht Tagen würden Sabine und er auch braun sein. Bei Sabine hatte die Sonne bis jetzt noch nichts bewirkt als eine Aufdünsung jedes Fältchens, jeder nicht ganz makellosen Hautstelle. Sabine sah grotesk aus. Besonders jetzt, wenn sie voller Vergnügen auf die Promenierenden blickte. Er legte eine Hand auf ihren Unterarm. Warum mußten sie überhaupt dieses hin- und herdrängende Dickicht aus Armen und Beinen und Brüsten anschauen? In der Ferienwohnung wäre es auch nicht mehr so heiß wie auf dieser steinigen, baumlosen Promenade. Und jede zweite Erscheinung hier führte ein Ausmaß an Abenteuer an einem vorbei, daß das Zuschauen zu einem rasch anwachsenden Unglück wurde. Alle, die hier vorbeiströmten, waren jünger. Schön wäre es jetzt hinter den geraden Gittern der Ferienwohnung. Drei Tage waren sie hier, und drei Abende hatte er Sabine in die Stadt folgen müssen. Jedesmal auf diese Promenade. Leute beobachten fand sie interessant. War es auch. Aber nicht auszuhalten.

Helmut Halm ist, man kann es kaum überlesen, wo er nicht sein möchte. Viel lieber als hier an der Überlinger Promenade wäre er in der Ferienwohnung mit ihren vergitterten Fenstern geblieben und könnte dort in Kierkegaards Tagebüchern lesen. Stattdessen sitzt er da, kann sich seinen eigenen, schonungslosen und wenig schmeichelhaften Blicken auf die Leute um ihn wie auf seine Frau nicht entziehen, als das vollkommen Ungewollte passiert: sie begegnen einem ehemaligen Schulkameraden und Kommilitonen, Klaus Buch. Den hält Halm, selbst Oberstudienrat an einem renommierten Stuttgarter Gymnasium, sogar zunächst für einen ehemaligen Schüler, so jung, so lässig wirkt er auf ihn. Und natürlich verjüngt durch die Frau an seiner Seite, die tatsächlich so jung ist wie sie aussieht.

Schnell wird dem Leser klar, dass sich Klaus Buch als Antipode zu Helmut Halms weltflüchtiger Lebensweise darstellt. Entgegen Halms Willen treffen sich die beiden Paare in den nächsten Tagen zu gemeinsamen Unternehmungen. Dabei lässt Buch keine noch so peinliche Gelegenheit aus, sich selbst als sexuell befreiten und weltoffenen Erfolgsmenschen darzustellen und gleichzeitig seinen ehemaligen Schulkameraden zu desavouieren. Dass das aber alles nur Fassade ist, wird sich erweisen. Die letztlich nie stattfindende Auseinandersetzung der beiden Männer erreicht einen ersten Höhepunkt, als sie bei einer Wanderung Zeuge werden, dass ein Pferd durchgeht. Diese, der Novelle den Titel verleihende Gefahr wird durch das Eingreifen Klaus Buchs beendet. Eine fast schon allegorische Bedeutung erfährt die Episode durch die großmäulige Erfahrungsbekundung, die Buch damit verbindet. Der Bauer, so Buch, habe

den Fehler gemacht, von vorne auf das Pferd zuzugehen und auf es einzureden. Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muss das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd lässt nicht mit sich reden.

Was Buch hier meint, selbstgewiss und kritisch bemerken zu müssen, beschreibt letztlich ziemlich genau sein eigenes Verhalten gegenüber Halm. Er geht ihn allzu frontal an. Deshalb verbindet sich mit dem fliehenden Pferd auch noch nicht das eigentlich unerhörte Ereignis der Novelle.

Bei einer gemeinsamen Segeltour der beiden Männer, bei der Buch meint, wie ein Hasardeur die durch aufziehende schwere Wetter drohende Gefahren ignorieren zu können und seinen tollkühnen Segelritt über den Bodensee immer weiter auf die Spitze treiben zu müssen, schlägt ihm Halm die Pinne aus der Hand. Buch geht über Bord und wird gleich weggespült; Halm kann gerettet werden.

Damit endet die Novelle noch nicht, sondern erlebt noch eine Art Epilog mit einer Wendung, die recht überraschend kommt, aber all jenen, die Ein fliehendes Pferd zum ersten Mal lesen möchten, nicht verraten werden soll. Was aber die 1978 erschienene Novelle auch im Abstand von über 40 Jahren lesenswert macht, ist ihre schonungslose Sicht auf die Beziehungsverhältnisse der Menschen, die hier pointiert ausgebreitet werden.

Erzähltechnisch ist sie durch eine starke innere Fokalisierung auf die Figur des Helmut Halm geprägt. Er selbst sieht sich als eine Art intellektuellen Kleinbürger, der Philosophie, insbesondere Nietzsche und Kierkegaard zugeneigt, sein eigenes Älterwerden mit Argwohn wie auch Angst bedenkend. Er erscheint als alles andere denn als Identifikationsfigur: eine offensichtlich wenig schülerzugewandte Lehrergestalt, den sie „Bodenspecht“ nennen. Denn er neigt wohl zu einer nach vorne gebeugten Körperhaltung, die ihm erlaubt, auf die Schuhspitzen seiner Gesprächspartner zu schauen, während er mit ihnen redet. Eine Abwehrhaltung, wie sich herausstellt, um dem jeweiligen Gegenüber nicht in die Augen und den Schülerinnen nicht in den Ausschnitt schauen zu müssen. Gleichwohl hat er einmal gegrapscht; zu seinem Glück hatte es die Betroffene „für ein Versehen gehalten“. Nein, ein Sympathieträger ist er nicht, aber er geht mit seinen eigenen Widersprüchen genauso schonungslos um wie mit denen der anderen; eine Haltung, zu der der narzisstische Klaus Buch vollkommen unfähig ist. Es ist diese Schonungslosigkeit, die die Novelle so luzide und ehrlich macht. Und das, wie bei Walser kaum anders zu erwarten, auf sprachlich allerhöchsten Niveau.

Ein fliehendes Pferd, obgleich wohl zunächst als eine Art Nebenarbeit konzipiert, ist wahrscheinlich bis heute Walsers erfolgreichstes Buch, trotz zahlreicher anderer, der Novelle in den Jahrzehnten danach noch folgender Romane. Eine an Selbstvermessenheit kaum überbietbare Protektion erfuhr das Buch noch vor seiner Veröffentlichung durch Marcel Reich-Ranicki, der, so zumindest empfand es Walser, ihn zuvor mit Jenseits der Liebe (1976) noch hatte aus dem Literaturbetrieb verbannen wollen. Dieses für Walsersche Verhältnisse eher schmale Buch etablierte den Autor hingegen endgültig als den letzten Großschriftsteller, den wir noch haben.


Zur Textausgabe:

Bekanntlich wechselte Walser mit seinem gesamten Werk im Jahr 2004 von Suhrkamp zum Rowohlt Verlag. Trotz allem sind die älteren Werke des Autors immer noch, und von irgendwelchen Sonderausgaben abgesehen, sogar ausschließlich als Suhrkamp-Ausgabe erhältlich. Empfehlenswert ist sicherlich die Ausgabe

Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Text und Kommentar. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 202 (Suhrkamp BasisBibliothek. 25).