You are currently viewing Martin Walser: Ein sterbender Mann

Martin Walser: Ein sterbender Mann

Ich widerspreche!

In seinem persönlich an Martin Walser adressierten, aber natürlich eigentlich an seine Leserinnen und Leser gerichteten  Rezensionsbrief rechnete Tobias Nazemi ziemlich harsch mit Walsers aktuellem Roman Ein sterbender Mann ab. Die seinerseits gewählte Form des Leserbriefs kam offensichtlich gut an und fand reichlich Resonanz. Die Besprechung hatte vieles, was man sich wünscht: sie war durchaus originell, sie war witzig, sie war frech, sie war klar in ihrem Urteil, sie war ohne Scheu vor diesem letzten unserer alten, deutschsprachigen Großschriftsteller (sieht man von Enzensberger vielleicht einmal ab). Trotzdem störte mich etwas, und vielleicht war es die Respektlosigkeit, gegen die ich mich sträubte.

Literaturkritik ist keine geriatrische Therapieform, könnte man mir entgegenhalten. Also müsse man Kritik und Missfallensäußerungen aushalten, unabhängig vom Alter des Autors und von dessen eindrucksvollem Gesamtwerk. Ohne Zweifel, aber entbindet diese Feststellung von der eigenen Suche nach der Ausdrucksform? Man muss keinen Linguisten befragen, um nachzuvollziehen, dass unterschiedliche Sprechakte unterschiedliche Wirkungen erzeugen: „Ich habe einen langweiligen und misslungenen Roman gelesen.“, das wirkt anders als die Aussage „Das ist ein langweiliger und misslungener Roman.“ Wieder anders: „Du hast“ – oder genauer, denn Tobias Nazemi bleibt in der Briefanrede beim distanzierten Sie – „Sie haben einen langweiligen und misslungenen Roman geschrieben.“ So direkt hat er es nicht formuliert, aber so direkt  erreicht die Nachricht den fiktiv angesprochenen Empfänger. Die Kritik zielt auf die Person, und dieser Gestus wird noch dadurch verstärkt, dass der neue Roman mit den letzten dreien wie im Vorbeigehen in einen Topf geworfen wird: Alle(s) misslungen.

Im Oktober 2014 habe ich Martin Walser zum letzten Mal bei einer Lesung gesehen. Es las in Aachen aus seinem nunmehr vorletzten Roman „Die Inszenierung“. Ein alter Mann, in seinen motorischen Einschränkungen ein Greis trat auf die Bühne des „Forum M“ in der Mayerschen Buchhandlung. Man musste ihm die wenigen Stufen hinaufhelfen und auf dem Weg ans Pult stützend begleiten. Dort stand er, schaute kurz ins Publikum, richtete sich auf und begann zu lesen. Der damals 87-Jährige während der rund 45 Minuten dauernden Lesung stehend am Pult. Kein Greis, ein zwar alter, aber überhaupt nicht gebrechlicher Mann, eine den Raum füllende Erzählstimme, einige den Vortrag unterstützende Gesten, ein paar wenige Male der Griff zum Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Und nach dem Vortrag der Rückfall in die körperliche Greisenhaftigkeit; wieder ein Helfer notwendig, der ihn zu einem Stuhl am Signiertisch begleiten musste. Mehr als der Roman beeindruckte mich dieser Auftritt, dieses gelingende Aufleben am Literarischen und darin eingelagert das Aufbegehren gegen den eigenen körperlichen Verfall, und sei es nur für eine Dreiviertelstunde. Seither verbietet sich für mich jedwede Respektlosigkeit.

Ich würde gerne widersprechen!

Und in der Sache? Ja, ich würde gerne weiterhin widersprechen – und kann es nicht. Mag sein, man könnte Tobias Nazemi entgegenhalten, er hätte vielleicht sein Urteil korrigiert, wenn er nicht nach 2/3 des Romans die Lektüre beendet hätte. Denn das Beste kommt vielleicht nicht zum Schluss, aber im letzten Drittel. Ich kann trotzdem nachvollziehen, dass man in einem diffusen Gefühlsgemenge von Gelangweilt- und Genervtsein nach 150 Seiten den sterbenden Mann zur Seite legt.

Dessen Handlung lässt sich schnell skizzieren. Im Mittelpunkt steht ein 72-jähriger Unternehmer mit einem typisch Walserschen Namen: Theo Schadt. Dieser Mann beklagt die Insolvenz seines Unternehmens aufgrund eines „Verrats“ durch seinen bis dato besten (und auch einzigen) Freund Carlos Kroll. Dieser Carlos Kroll ist von Hause aus Schriftsteller, Lyriker genauer gesagt, während Theo Schadt als „Nebenherschriftsteller“ im Bereich der Sachbuchliteratur reüssiert hatte. Es entbehrt nicht ganz der Ironie, dass der ’nebenherschriftstellernde‘ Unternehmer von einem schreibenden ‚Nebenherunternehmer‘ ausgebootet wurde, aber aus diesem Umstand wird im Roman wenig gemacht. Drei Dinge prägen fortan das Leben Schadts: seine Abscheu und sein Hass auf Kroll, seine nicht wirklich ernsthaft betriebene, sondern eher kokett wirkende Beschäftigung mit dem Selbstmord, sein dadurch motivierter Beitritt zu einem Suizidforum im Internet und schließlich seine Tätigkeit als Kassierer im Geschäft seiner Frau Inge in der Schellingstraße in München, die sich auf all das spezialisiert hat, was mit dem Tangotanzen zu tun hat. Dort begegnet er Sina Baldauf, deren Lichtgestalt – er selbst spricht von „grellster Helle“ – ihn mit Liebe flutet. Schadt verlässt seine Frau, die „göttliche Iris“, und beginnt fortan Briefe und Emails zu schreiben, vor allem (aber nicht nur) an Sina, die auch bald antwortet.

Wer sich nach der bisherigen Inhaltsskizze an einen Brief- oder Emailroman erinnert fühlt, wer gar den Eindruck gewinnt, es klinge arg nach einer Walserschen Variante von Daniel Glattauers Erfolgsroman „Gut gegen Nordwind“, dem sei versichert, dass dieser Eindruck nicht täuscht. Ergänzt werden muss nur: die Lektüre ist ungleich weniger unterhaltsam. Gründe dafür liegen nach meiner Wahrnehmung nicht darin, dass es sich hier bei Walser um eine Art unterbrochenen Briefroman handelt. Schadt schreibt an gleich vier Personen: an diese Sina Baldauf, an seine Frau Inge, an eine Chatpartnerin im Suizidforum, die dort unter dem Pseudonym „Aster“ agiert, und an einen „Herrn Schriftsteller“, eine durchaus gelungene ironische Auseinandersetzung Walsers mit der eigenen Autorenschaft. Unterbrochen wird der Briefroman vor allem durch einzelne auktoriale Erzählpassagen und – im letzten Romandrittel – durch eine Art Aphorismensammlung, die an Meßmers Gedanken oder Meßmers Reisen erinnern und die die lesenswertesten Pasagen des ganzen Romans sind. Ansonsten aber scheitert der Roman an seinen schwelgerischen Übertreibungen, an den metaphorischen Aufladungen der selbst größten Banalität und der übersteigerten Apotheose der Liebe. Der eine oder andere, der Walsers Roman schon vorgestellt hat, hat auf das Erotomanische in seinem Werk hingewiesen. Es tut mir leid, ich habe nichts Erotisches in diesem Roman gefunden, es sei denn dass der selbstreferentielle Wert der zur Sprache gebrachten Liebe selbst als erotisch wahrgenommen wird. Mich haben dieses Ringen eines alternden Mannes um die Liebe und der absehbare Plot gelangweilt. Bestenfalls tat mir die Figur irgendwann leid, am Ende aber war ich nur genervt. Was bleibt, sind die Lesezeichen in den Aphorismen, mehr nicht. Ich habe einen langweiligen und misslungenen Roman gelesen. Schade.


Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. – Reinbek bei Hamburg; Rowohlt Verlag 2016 (19,95 €)