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Michael Krüger: Der Gott hinter dem Fenster

Immer soll es eine Antwort geben am Ende des Lebens, aber es gibt keine. Es ist eine kleinbürgerliche Vorstellung, dass sich etwas vollenden solle, ein feines Kneifen vor der Macht des Zufalls.

„Nein, du irrst“, mag man dem Ich-Erzähler aus der Erzählung Für immer entgegenhalten. „Du irrst, wenn du glaubst, es sei eine kleinbürgerliche Vorstellung. Denn du bist selbst ein Exempel dafür, dass sich diese Erwartung nicht auf die Kleinbürger beschränkt. Es sei denn, wir sind alle Kleinbürger, du auch.“ Dabei ist die ztierte Aussage symptomatisch für alle Protagonisten , die sich in dem Band mit insgesamt dreizehn Erzählungen von Michael Krüger zu Wort melden. Sie setzen sich mit dem eigenen Altwerden auseinander, fragen nach einem Sinn, ohne ihn zu finden, und wehren die Frage zugleich ab, in Für immer eben mit dem Verweis auf eine vermeintlich kleinbürgerliche Denkweise und Haltung. Typisch ist dieser Text, weil die drängenden Fragen nach dem Umgang mit dem Alter und der sich aufdrängenden Einsicht in die eigene Endlichkeit sich in Variationen ebenso durch alle diese Erzählungen ziehen. Denn die Ich-Erzähler – und andere Erzählfiguren gibt es in den Texten dieses Bandes nicht – befinden sich fast alle im fortgeschrittenen Alter jenseits der sechzig; sie sind oder waren in Berufsfeldern des Kulturbetriebs tätig und sie sind auch fast alle Schriftsteller.

Mag sein, dass es sich um Figuren handelt, die allesamt autobiographische Variationen des Lebens ihres Autors darstellen. Aber dieser Aspekt ist nicht von Belang. Man muss keinen Hang zum voyeuristischen Blick auf das Leben des Lyrikers, Essayisten, Romanciers und ehemaligen Hanser-Verlegers Michael Krüger wecken, um den Blicken folgen zu können, den diese Ich-Erzähler auf ihre Welt werfen. Anteilnahme und Distanz zugleich sind die wesentlichen Haltungen, die die Blicke ausmachen. Immer gibt es irgendetwas, dass sich zwischen dem Ich-Erzähler und die Welt schiebt, in und mit der er lebt. Insofern ist der Titel des Bandes Der Gott hinter dem Fenster, der entgegen häufiger Gepflogenheiten keinem Titel aus einer der abgedruckten Erzählungen entnommen ist, eine treffende Metapher für dieses Verhältnis zwischen dem Ich und der Umwelt. Zwischen dem, der Erlösung anbieten könnte, und dem Ich in seiner Welt bleibt die Scheibe, Gott ist heilsversprechende Auslage, mehr nicht mehr. Aber der betrachtende Ich-Erzähler ist auch selbst nicht gottgleich als derjenige, der, seine Welt beobachtend, selbst hinter dem Fenster steht. Dieser Platz markiert viel mehr seine Einsamkeit.

Symptomatisch daher auch das Motto, das Michael Krüger allen Erzählungen vorangestellt hat, Ein Zitat ais Hölderlins Hyperion: „Ich habe nichts, wovon ich sagen könnte, es sey mein eigen.“ Deutlicher wird die Anspielung noch, schaut man auf den Zusammenhang, aus dem das Zitat genommen wurde. Im zweiten Brief, den Hyperion an seinen Freund Bellarmin schreibt, heißt es:

Ich habe nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen.
Fern und tot sind meine Geliebten, und ich vernehme durch keine Stimme von ihnen nichts mehr.
Mein Geschäft auf Erden ist aus. Ich bin voll Willens an die Arbeit gegangen, habe geblutet darüber, und die Welt um keinen Pfenning reicher gemacht.
Ruhmlos und einsam kehr ich zurück und wandre durch mein Vaterland, das, wie ein Totengarten, weit umher liegt, und mich erwartet vielleicht das Messer des Jägers, der uns Griechen, wie das Wild des Waldes, sich zur Lust hält.
Aber du scheinst noch, Sonne des Himmels! Du grünst noch, heilige Erde! Noch rauschen die Ströme ins Meer, und schattige Bäume säuseln im Mittag. Der Wonnegesang des Frühlings singt meine sterblichen Gedanken in Schlaf. Die Fülle der allebendigen Welt ernährt und sättiget mit Trunkenheit mein darbend Wesen.
O selige Natur! Ich weiß nicht, wie mir geschiehet, wenn ich mein Auge erhebe vor deiner Schöne, aber alle Lust des Himmels ist in den Tränen, die ich weine vor dir, der Geliebte vor der Geliebten.

Verluste prägen die Weltsicht des Briefeschreibers, lassen die Welt um ihn her merkwürdig gelieren. Michael Krüger aber ist zu klug und zu sehr Mensch des 20. und 21. Jahrhunderts, um der Hölderlinschen Naturtheologie einfach folgen zu können. Doch er weiß auch, es gibt da einen Rest; einen Rest, den der aufgeklärte Mensch des Heutigen nicht zu durchschauen weiß. So erzählt er in der kurzen Erzählung Der Baumumarmer von einem Mann, offensichtlich auch Schriftsteller, der von sich behauptet, die Menschen alle durchschauen zu können. Da ist nur einer, der seine Gewissheit durchbricht, eine merkwürdige Gestalt, die er durch ein Fenster seines Hauses immer wieder beobachtet. Er stellt sie zwar als „ganz und gar unglückselige Gestalt“ vor, zeigt sich zugleich aber zutiefst irrittiert, wenn er einmal mehr Augenzeuge wird, dass dieser Mann einen Baum umarmt und dieser Moment der Umarmung eine tiefe, tiefe Innigkeit ausstrahlt. Dieser Rest, der sich der Reflexion verweigert, verunsichert den Ich-Erzähler in seiner Lebens- und Weltgewissheit, ohne dass er zugleich diese Ungewissheit entbehren könnte.

Verunsicherungen dieser und anderer Art machen die Figuren durchweg zu Melancholiker. Sie erzählen Geschichten vom In-der-Welt-sein der Intellektuellen und dem Bewusstsein, dass dieses Verhältnis zugleich immer poröser wird. Kein Wunder, wenn eine Reihe von Begebenheiten satirisch überspitzt daher kommen, wenn sie den Kulturbetrieb kritisch entlarven und karikieren. Aber sie beschränken sich nie darauf,  die Haltungen, Denkweisen oder Entwicklungen einem Verlachen preiszugeben, das es ermöglicht, sich selbst darüber zu erheben. Man ist entfernt und mitten drin, ein Fenster dazwischen, doch dieses Fenster ist nicht blind. Nein, es ist eher geschliffen und verspiegelt zugleich. Gerade deshalb erzeugen die Erzählungen durchweg ein ausgesprochen anregendes wie auch verstörendes Lesevergnügen.


Michael Krüger: Der Gott hinter dem Fenster. Erzählungen. – Innsbruck, Wien: Haimon Verlag 2015 (€ 19,90).