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Ohne Verfallsdatum Persönliche Anmerkungen zum literarischem Bestand über das Jahr 2015 hinaus

In den letzten Tagen habe ich so viele Blogs gelesen, in denen Rückschau auf das eigene Lesejahr gehalten und Buchempfehlungen ausgesprochen werden, dass ich schon erwog, genau aus dem Grund mich selbst zurückzuhalten. Aber der Rückblick auf die gelesenen Bücher ist auch ein Rückblick auf meinen Blog. Den habe ich im September begonnen, eine schon lange gehegte Idee und einen Wunsch in die Tat umgesetzt, aber nicht geahnt, dass er mir so schnell so viel bedeutet. Die Zahl der Leser ist noch gering, aber höher als erwartet. Dafür danke! Das Wichtigste aber: der Blog hilft mir zu lesen. Nicht im Hinblick auf Quantität. Wenn ich andernorts lese, dass im beinahe vergangenen Jahr mehr als 100 Bücher gelesen wurden, so kann ich nicht mithalten – und will es auch gar nicht. Mir fehlt dazu nicht nur die Zeit – Brotberuf, Familie und andere Bindungen, auf die man nicht verzichten möchte, lassen das nicht zu; die Menge macht es auch nicht. Aber der Blog hilft mir, intensiver zu lesen, genauer hinzuschauen, Urteile sorgfältiger und länger abzuwägen – und dann darüber zu schreiben, um schließlich auch weniger zu vergessen. Lesen und Schreiben – das findet man in den vielen wunderbaren Essays von Christa Wolf als ein Lebenskonzept, manchmal ein durchaus schmerzhaftes, immer  auch eines mit politischem Anspruch und Bewusstsein. Dergleichen gefällt mir durchaus.

Welche Bücher bleiben mir im Gedächtnis, unterliegen nicht oder zumindest weniger schnell dem ganz persönlichen literarischen Verfallsdatum? Was hat vermutlich eine höhere Halbwertszeit? Drei der vier Bücher, die mir in diesem Zusammenhang einfallen, habe ich gelesen, bevor ich mit meinem Blog begann. Ich nenne die vier in der Reihenfolge, in der ich sie gelesen habe.

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Ian McEwan: Kindeswohl

Da war zunächst Ian McEwans Kindeswohl, ein toller Roman eines geradezu begnadeten Erzählers. Vielleicht ist dieser Text aber auch eine Novelle, geschieht doch ein wahrlich unerhörtes Ereignis. Die Hauptfigur, eine 60-jährige Richterin am High Court in London lässt sich küssen von einem ganz jungen Mann, der annimmt, sie habe ihm das Leben gerettet. Er leitet daraus den Wunsch, ja schon beinahe die Berechtigung ab, fortan in irgendeiner Weise mit ihr leben zu können. Wirft man noch einmal einen Blick auf die entscheidende Szene, den Kuss, so spricht auch beim Wiederlesen einiges dafür, dass die Richterin ihn erwiderte. Aber sie kann dem Ansinnen des Jünglings trotzdem nicht folgen. Der stirbt kurze Zeit später an der wieder ausgebrochenen Leukämie, weil er die Bluttransfusionen, die ihn retten würden, verweigert.

Damit habe ich aber nur das ungefähr letzte Viertel des Romans wiedergegeben. Die Richterin hatte den kurz vor seiner Volljährigkeit stehenden, leukämiekranken jungen Mann gegen seinen eigenen und den Willen seiner Eltern zuvor dazu verurteilt, Bluttransfusionen durchführen zu lassen, die ihn – zumindest für eine Zeit – heilten. Mit ihrer richterlichen Entscheidung erklärte sie die Glaubensüberzeugungen der Zeugen Jehowas, die Bluttransfusionen aus religiösen Gründen ablehnen, aber zugleich für nachrangig. Allein die in den Roman eingebauten Diskussionen um Würde, Glaubensfreiheit und den Wert von Leben machen den Roman lesenswert und werfen Fragen auf, die uns stets begleiten werden.

Eingebettet ist diese Thematik zudem in die private Lebenssituation der Richterin, die sich in einer Lebenskrise befindet. Ihr Mann will sie wegen einer jüngeren Frau verlassen, wohnt mit ihr aber zumindest die meiste Zeit noch in der gemeinsamen Wohnung. Ihre Ehe scheint am Ende und kann es zugleich nicht sein, eine geradezu aberwitzige Lebenssituation. Doch die Pläne ihres Manne erfüllen sich nicht, seine neue Beziehung scheitert, bevor sie richtig beginnt. Über den Tod des jungen Mannes finden die Eheleute schließlich auch wieder zusammen … Während ich die letzten Zeilen schreibe, gewinne ich den Eindruck, es könne sich anhören wie Kitsch. Doch es ist alles andere. Ein wunderbarer, in seiner Erzählweise leichter Roman, der nicht nur in seinen juristisch-philosophischen Diskursen große Fragen aufwirft.

Ian McEwan: Kindeswohl. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. – Zürich: Diogenes Verlag 2015 (22,00 €)

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren

Jonas Lüschers Novelle Frühling der Barbaren erschien im Januar 2013. Ich entdeckte den Erstling des jungen Schweizer Autors erst in diesem Jahr, nachdem er auf die Vorschlagsliste für den Euregio Literaturpreis des Jahres 2016 gerückt war. Die Novelle erzählt vom Aufenthalt eines Schweizer Fabrikerben namens Preising in einem tunesischen Oasenresort, eine Art Club Robinson für die ausgesprochen Wohlbetuchten. Preising selbst landet dort im Rahmen einer letztlich bedeutungslosen Geschäftsreise. Bedeutungslos ist sie unter anderem deshalb, weil Preising in seiner eigenen Firma eigentlich längst kalt gestellt ist und die Entscheidungen von einem Angestellten getroffen werden. In diesem abgeschotteten, mondänen Urlaubsdomizil erlebt er die Hochzeitsvorbereitungen reicher junger Engländer aus der britischen Finanzwelt, für die Geld keine Rolle zu spielen scheint. Während der mehrtägigen Feierlichkeiten aber bricht in Großbritannien das Wirtschaftsssystem zusammen, das britische Pfund stürzt ins Bodenlose, das Vereinigte Königreich ist schon nach wenigen Tagen bankrott. Das unerhörte Ereignis nimmt seinen Lauf. Denn in der Folge brechen in dem Urlaubsresort alle zivilisatorischen Dämme.

Jonas Lüscher erzählt, wie dünn der Boden ist, wie schmal der Grad ist, auf dem wir uns bewegen, bisweilen auch tanzen, und wie groß die Gefahr, in Barbarei abzustürzen. Dabei ist die Novelle raffiniert konstruiert, lebt von einem stets Tempo machenen, fast schon an die Novellen Kleists erinnerenden Sprachduktus, der das Erzählte dem Verlachen preis gibt und zugleich dem Schrecken Gestalt zu geben versteht. Es gibt Textpassagen, die ich vor lauter Lachen nicht habe vorlesen können, und ich habe selten ein solches Unbehagen an den eigenen Lebensumständen gespürt, als auf weniger als drei Druckseiten der Verfall des Wirtschafts- und Finanzsystems dargestellt wurde. Lüscher lässt tief blicken, hinein in die kapitalistische Seele und auf den ebenso glänzenden wie mit Rissen durchsetzten Tanzboden, auf dem wir uns zivilisatorisch im Wiegeschritt bewegen.

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren. –  München. C.H. Beck Verlag 2013, 72015 (14,95 €). Mittlerweile auch als Taschenbuch erhältlich: München: btb Verlag 2014 (7,99 €)

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Ein Roman, der schmerzt und der dem Leser einiges abfordert. Er konfrontiert mit Bildern von ausgeschärfter Grausamkeit und Brutalität, er stellt bohrende Fragen nach Verstrickung und Verantwortung, nach der unausweichlichen Last der Vergangenheit und ihrer Übergriffe auf die nachfolgenden Generationen, nach den Grenzen des Aushaltens einer geradezu existenziellen Traurigkeit.

Zum Inhalt muss kaum noch etwas gesagt werden. Ralf Rothmann erzählt die Geschichte eines jungen Melkers, der in die letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs hineingezwungen wird und unsäglich Grausames erlebt. Die Erlebnisse und Erfahrungen lassen den jungen Mann äußerlich lange Zeit unberührt, so scheint es zumindest. Bis er zum Erschießungskommando gehören muss, das seinen besten Freund zu exekutieren hat, der desertiert war. Dann das Kriegsende, alles ist anders, alle sind anders. Der junge Mann findet seinen Platz als Arbeiter nur noch um den Preis des Rückzugs ins Schweigen und der Panzerung nach außen. Als solchen Menschen erlebt ihn der Erzähler, sein Sohn.

Was ist nicht alles in diesem Jahr über den Roman gesagt worden? Aufmerksamkeit erreichte er schon alleine durch den Umstand, dass Rothmann nicht an dem Auswahlverfahren zur Verleihung des Deutschen Buchpreises teilnehmen wollte und den Suhrkamp Verlag gebeten hatte, sein Buch nicht einzureichen. Verfolgte man die Feuilletons, so schien es zeitweise, als sei Im Frühling sterben der stille Gewinner dieses Preises geworden.

Doch es gab auch kritische Stimmen. Mitte November 2015 veröffentlichte der Deutschlandfunk im Rahmen der Sendereihe „Kulturfragen“ ein Gespräch mit dem Literaturredakteur Hubert Winkels, um der Frage nachzugehen, wie politisch Literatur sein solle, müsse oder dürfe. Darin spricht sich Winkels gegen eine „Sentimentalisierung“ von Zeitgeschichte und Geschichte aus und nennt als Beispiele dafür den jüngsten Roman Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen und eben Ralf Rothmanns Im Frühling sterben. Offenbar meint Winkels mit dieser Kategorie, dass ein literarischer Umgang mit Geschichte und Zeitgeschichte, der zu stark die Gefühlsebene des Lesers anspricht, problematisch sei. Diese Kategorie erscheint mir wenig hilfreich. Was leistet denn Literatur, wenn sie nicht, in welcher Form auch immer, „sentimentalisiert“. Dann könnte man ja auch ein Sachbuch lesen. Es geht doch nicht um „Sentimentalisierung“, sondern um deren literarische Verarbeitung, um Form und Gestalt. Vereinfachung, Oberflächlichkeit, Ungenauigkeit, Stereotypisierung – das sind die Kriterien, die Literatur fragwürdig werden lassen. Und davon ist Rothmanns Roman unglaublich weit entfernt. Er stellt noch einmal und zugleich mit eigener Stimme die Frage nach den Verstrickungen jener, die der Krieg versehrt und sie dazu verdammt, ihre Versehrtheiten weiterzureichen. In Büchners Dantons Tod heißt es, man solle doch einmal dorthin gehen, wo die (politischen) Phrasen verkörpert werden. Genau das hat Rothmann getan.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2105 (19,95 €)

John WiIlliams: Butcher’s Crossing

Ich kann mich kurz fassen und muss mich nicht wiederholen. John Williams‚ Roman besticht nicht nur durch die feine Psychologie seiner Figurenzeichnung und die grandiosen Naturbeschreibungen. Dieser, in der äußeren Form sicher dem Genre des Westerns zuzuordnende Roman schaut tief in die Abgründe der menschlichen Natur und ihrer unheimlichen Fähigkeit, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Lässt man ihr freien Lauf, so bleiben nur Verwüstungen zurück: ökologische, ökonomische und vor allem menschliche.

John Williams: Butcher’s Crossing. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2015 (21,90 €)

Nach dem Rückblick ein kleiner Blick nach vorne

Mittlerweile habe ich einen, allerdings eher kursorischen Blick in die Frühjahrskataloge einiger Verlage geworfen. Vorbestellt habe ich Peter Stamms neuen Roman Weit über das Land, Christoph Heins Glückskind mit Vater liegt mir als Rezensionsexemplar vor. Auf beide Bücher freue ich mich. Lesen werde ich sicherlich (wie immer) Martin Walsers neuen Roman Ein sterbender Mann, der schon im Januar erscheinen wird. Ob ich mich darauf gefreut haben werde, wird sich, wie immer bei meinen Walser-Lektüren, erst im Nachhinein sagen lassen. Den Rest der Neuerscheinungen lasse ich eher ungeplant auf mich zukommen. Wie immer hoffe ich, mich nicht zu sehr dem Hype der Neuerscheinungen zu unterwerfen, wie immer hoffe ich, es möge mir besser gelingen als zuvor. Für das Lesejahr 2016 wünsche ich mir mehr Zeit für das Wiederlesen der „Klassiker“ oder die, die ich dafür halte.