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Regina Düring: 2 1/2 Gespenster

 

„I would prefer not to“ – dieser Ausdruck des Nichtwollens und der radikalen Verweigerung ist zu einer stehenden Redewendung der Literatur geworden. Der Schreiber Bartleby, diese stets schattenhaft bleibende Figur aus Herman Melvilles  1853 erstmalig veröffentlichter Erzählung, ist der Prototyp für all jene, die nicht mittun, mehr noch: die sich eben nicht nur einer Sache verweigern, sondern durch ihr Handeln und ihre Haltung der Mitwelt keinerlei Angebot machen, in welcher Weise man auf sie eingehen kann. Man bleibt ratlos, selbst bei gutem Willen, wie man mit ihnen umgehen kann und soll. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Regina Düring ihrem Jugendbuch Bartlebys Standardantwort als Motto voranstellt: „‚Ich möchte lieber nicht‘, sagte er.“

Der Leser wird mit einem jungen Mann namens Leo, um die 18 Jahre alt, konfrontiert, von dem man von Beginn des Romans bis zu seinem Ende eigentlich gar nichts sicher weiß. Zum ersten Mal begegnen wir ihm, als er in einem Café einige Stücke Kuchen isst, aber nicht bezahlen will. Zeuge dieses Vorfalls wird Familie Rietmann; und als Dominik, der Vater, großzügig und unter massiven Bedenken und Protest seiner Frau, die Rechnung des Jungen übernimmt, öffnen sich sogleich die Widersprüche, Brüche und Konflikte in diesem Personengefüge. Der idealistische Sozialromantiker, so erfährt der Leser bald, schlägt sich als selbstständiger Drucker mit einem kleinen, auf Buchdruck spezialisierten Betrieb mehr schlecht als recht durch. Und das tut er nicht zuletzt deshalb, weil ihm ökonomische Zusammenhänge vollkommen gleichgültig zu sein scheinen. Seine Frau Ines hat ihre Ambitionen, als Pianistin Erfolg zu haben, vor vielen Jahren wegen der Familie aufgegeben. Erst spät erfährt man, dass die überraschende Schwangerschaft wohl der Grund für ihre Entscheidung war. Das gemeinsame Kind Jonna ist die mittlerweile 16-jährige Ich-Erzählerin, die die Geschichte ihrer Familie mit Leo erzählt.

Es sind im Wesentlichen zwei Aspekte, die die Erzählung des Mädchens prägen. Zum einen sind es die Spannungen und Konflikte in der Familie, die sich am Auftauchen Leos entzünden, zum anderen setzt sie sich mit ihrem eigenen Verliebtsein in diesen jungen Mann auseinander. Sie ist sich dabei sehr schnell darüber im Klaren, dass eine Beziehung zu ihm keinen Bestand könnte, sieht sich aber trotzdem immer wieder irritiert und fasziniert von dessen Verhaltensweisen. Dieser Leo nämlich beansprucht in der Familie sukzessive immer mehr Raum. Zunächst arbeitet er in der Druckerei mit, schließlich bewohnt er ein Zimmer oberhalb der Betriebsräume, das eigentlich als Rückzugsmöglichkeit für Jonna da war, wenn es zwischen den Eltern mal wieder krachte,  und am Ende tut er schließlich gar nichts mehr. Er kommt und geht, scheinbar wann und wie er will, und erweist sich als absolut unzuverlässig. Sein Verhalten, mehr noch und genauer: die unterschiedlichen Bewertungen dieses Verhaltens lassen die Haarrisse im Familiengefüge zu Rissen werden und verursachen am Ende die Trennung von Jonnas Eltern.

Wer jedoch annimmt, die Schilderung dieses Konflikts in der Familie und die Hin- und Hergerissenheit der Ich-Erzählerin in ihren Gefühlen könnte spannend sein, der ist wohl am Ende enttäuscht. Das hat mehrere Gründe. Leo hat, so wenig er für die Figuren wie für den Leser greifbar ist, überhaupt nichts ‚Gespensterhaftes‘, wie der Titel des Romans vermuten lassen könnte. Gerade weil er so schemenhaft ist, fällt es recht leicht, ihn als jemandem wahrzunehmen, der egoistisch Situationen für sich auszunutzen versteht. Die Gefahr, dass er, Bartleby gleich, an seiner Verweigerung selbst zugrunde gehen werde, besteht zu keinem Zeitpunkt. Hinzu kommt, dass man ihn für die Entfaltung des Familienkonflikts eigentlich gar nicht braucht. Dass diese Beziehung Gefahr läuft zu scheitern, weiß man als Leser nach zwanzig Seiten. Leo ist schließlich nur Medium des latenten Konflikts, nicht einmal Mitverursacher.

Und die Erzählerin? Jonna erscheint in dem Figurenarrangement als die Einzige mit Durchblick. Sie ist, im Gegensatz zu ihrem ab und an kiffenden Vater und ebenso im Gegensatz zu ihrer zum Überdrehen neigenden Mutter Ines eine abgeklärte, ja geradezu bürgerliche Existenz. Dieses Verhalten legt sie nie ab, nicht einmal als sie sich am Ende vorstellt, Leo sei nun in Paris, aber es sei besser, sie führe nicht hin: „Besserbesserbesserso.“ Wer sich mit 16 Jahren schon so konditioniert auf das Abgeklärtsein, führt eigentlich ein trauriges Leben.

Regina Düring wurde 2015 für diesen Jugendroman der Peter-Härtling-Preis zugesprochen. Begründet wird die Vergabe mit der Faszination der Figur Leo und der „völlig eigenständigen Erzählweise“. Letzterem Argument kann man durchaus ein Stück weite folgen. Der Roman spielt weithin geschickt mit zahlreichen literarischen Motiven und Anspielungen, nicht nur auf Melvilles Erzählung. Aber diese Verweise bleiben leer; sie öffnen keinen Verstehenshorizont, den man ohne sie nicht auch hätte. Da helfen dann auch die gekonnten und souveränen Wechsel in den Sprachebenen nicht wirklich, sich vom Erzählten beeindruckt zu zeigen. Jugendlichen zum Lesen empfehlen? Den Roman gar zur Schullektüre machen? Wieder lesen? „I would prefer not to“.


Regina Düring: 2 1/2 Gespenster. Roman. – Weinheim, Basel: Beltz & Gelberg 2015 (12,95€)