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Warum ich lese

Im Mai veröffentlichte Sandro Abbate auf seinem Blog novelero einen sehr persönlichen Artikel, in dem er der Frage nachging, warum er liest. Dieser Beitrag erfuhr unter Buch- und Literaturbloggern eine große Resonanz. In deren Folge wurden eine Vielzahl von Beiträgen veröffentlicht, in der sich die Autoren mit ihrer eigenen Lesebiographie beschäftigten. Entstanden sind ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Bedeutung des Lesens, die sich, so verschieden sie mit der Frage „Warum lese ich?“ umgingen, in einem Punkt zusammenlaufen: ihrer Liebe zur Literatur und zum Buch.

Am Anfang

Als ich fünf Jahre alt war, starb mein Bruder; unmittelbar nach der Geburt. Meine Mutter war wenige Tage vor dem errechneten Geburtstermin gestolpert und so unglücklich gestürzt, dass die Gebärmutter riss. In einer Notoperation konnte ihr Leben gerettet werden, das des Kindes, das noch lebend zur Welt gekommen war, aber nicht. Infolge der langen Operation erlitt meine Mutter zudem eine Lungenembolie, die ihren Zustand zwischenzeitlich noch einmal dramatisch verschlechterte. Ihr Krankenhausaufenthalt dauerte mehrere Wochen.

An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern, manches, wie etwa das Begräbnis meines Bruders, an dem meine Mutter nicht teilnehmen konnte, ist in Einzelbildern im Gedächtnis geblieben. An eines aber erinnere mich recht genau. Während ihres Krankenhausaufenthalts war ich tagsüber bei meiner Großmutter. Mein Vater brachte mich morgens früh, wenn er zur Arbeit fuhr, zu ihr und kam mich am Abend, nachdem er selbst im Krankenhaus gewesen war, wieder abholen. Nachmittags besuchte ich meine Mutter im Hospital, vermutlich meistens wohl in Begleitung meiner Oma. Während ich aber bei ihr zuhause war, las sie mir immer Märchen vor. Ich kann mich nicht erinnern, welche es im Einzelnen waren, sehe aber schemenhaft das Buch noch vor mir. Ein bunter Einband mit einem kindgerechten Bild von Rotkäppchen auf dem Titel, vergilbte Seiten, ab und an einige Zeichnungen. Meine Oma las, ich hörte zu. Sie las, wenn das Kind es wollte, ein Märchen auch mehrfach hintereinander. Eines der Märchen ertrug ich nicht und ertrage es bis heute nur schwer. Es hieß „Das Totenhemdchen“, ein Märchen, wie ich später wusste, der Gebrüder Grimm. Darin spielt ein verstorbener Junge eine Rolle, der im Leben der Mutter herumgeistert. Und der trägt ein weißes „Totenhemdchen“, das, wie ich vermutete, wohl so aussehen musste wie das, was mein Bruder im Sarg tragen würde.

Als es meiner Mutter wieder etwas besser ging, nahm ich zu meinen Besuchen das Märchenbuch mit. Dort kletterte ich auf ihr Krankenbett, schlug das Buch auf und las ihr vor. Dazu fuhr ich mit meinem Zeigefinger über die Zeilen, so als würde ich tatsächlich lesen, schlug ab und an auch die Seiten um und erzählte dabei eines der Märchen, das mir zuvor meine Großmutter aus dem Buch vorgelesen hatte. Meine Mutter, die in ihrem Leben davor und danach nie die Gelegenheit erhalten hatte, die wunderbare Bedeutung des Literarischen für das eigene Leben kennenzulernen, freute sich sehr und machte das Spiel mit, forderte mich auf, wenn ich wiederkomme, ein neues Märchen vorzulesen. Und so setzte sich das fort und fort, jeden Tag, bis meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nach Hause kam.

Außerdem erfuhr ich dabei ein großes Maß an Aufmerksamkeit. Auf dem Krankenzimmer lagen weitere Frauen, zwei oder drei, das weiß ich nicht mehr. Sie staunten über den Fünfjährigen, der augenscheinlich schon so gut lesen konnte; und sie äußerten dieses Erstaunen auch. So kam es, dass ich schließlich, immer noch auf dem Bett meiner Mutter sitzend, allen vorlas. Erwachsene Menschen lauschten den Märchen, die das Kind ihnen vorlas, genau genommen: erzählte.

Ich möchte diese – authentische – Geschichte aber nicht als Idylle oder als Utopie beschreiben. Krankheit, Trauer und Tod waren die steten Begleiter in diesem Zimmer. Aber in den Momenten, in denen ich erzählte und tat, als würde ich vorlesen, war das aufgehoben. Ich war meiner Mutter nah und konnte sie trösten durch das, was ich tat. Literatur erzeugte Momente des Glücks und hielt im Immer-wieder-Lesen ein Glück fest, das man im Leben nicht finden konnte, so sehr man sich auch bemühte. Das ist das Muster, das meine Leseleben prägt.

Zeitraffer

lesen literaturZunächst tat sich das Kind dann, als es ein halbes Jahr später eingeschult wurde, für alle überraschend beim ‚richtigen‘ Lesenlernen schwer. Die damals gängige, sogenannte analytische Ganzheitsmethode, die darauf abzielt, sich ganze Wortbilder einzuprägen, um von da aus auf die Laut- und Buchstabenebene zu gelangen, leuchtete nicht ein. Es war mein Vater, vielleicht bewegt vom Ehrgeiz, der Junge müsse doch ‚vernünftig‘ lesen, der mir mit dem umgekehrten Weg, einer damals als rückständig angesehen synthetischen Methode die Welt der Buchstaben, der Laute, der Wörter und ganzer Sätze innerhalb kurzer Zeit öffnete. Von da an simulierte ich nicht das Lesen, ich las.

Ich las in den nächsten zehn, zwölf Jahren alles mögliche, Kinderbücher, Jugendbücher, Comics, Groschenromane und natürlich Karl May, absoluten Schund ebenso wie Texte, die mir mehr sagen, ohne dass ich hätte verstehen können, was. Der Weg führte aber nicht zwangsläufig ins Germanistik-Studium, sondern eher durch glückliche Umstände. Das Studium selbst aber war mein Glück. Ich traf gleich im ersten Semester auf einen Dozenten, der es in seiner verschrobenen Art verstand, den Blick für Literatur und das Poetische an ihr zu öffnen. Ich lernte zu verstehen, was mir die Texte zu sagen in der Lage waren, und ich begann zu erahnen und immer mehr zu begreifen, was es hieß, wenn Christa Wolf mit Blick auf ihr Leben sagen musste, ja musste: Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich.

Heute

Warum lese ich? Heute, immer noch? Weil ich gar nicht anders kann. Und dennoch: Ich bin skeptisch gegenüber Aussagen, die das Lesebedürfnis in Vergleiche und Metaphern kleiden als sei es Teil des biologischen Stoffwechsels. Nein, ich brauche Literatur nicht wie die Luft zum Atmen, und sie ist auch nicht unverzichtbarer Bestandteil meiner Nahrungsaufnahmen. Solch kühne Assoziationen finden ich eher unbehaglich. Denn sie setzen eine ökologische und ökonomische Sicherheit voraus, die so selbstverständlich nicht ist. Es liest sich doch nur gut, wenn man weiß, dass der Kühlschrank gefüllt ist. Und der Kopf frei.

Also, warum lese ich? Was kommt zum angesprochenen Kindheitsmuster in den vergangenen fünf Jahrzehnten hinzu. Lesen ist ein Versuch, Antworten zu finden, Erklärungsansätze für die Unzulänglichkeiten und Gefährdungen einer Welt, die einen immer mehr zu bedrängen scheinen, im Kleinen wie im Großen, im Privaten wie im Gesellschaftlichen und Politischen. Und je drängender und bedrängender sie werden, desto größer wird das Lesebedürfnis. Lesen ist ein aus Ängsten, Zweifeln und Verzweifelungen erwachsenes Bedürfnis und es hebt sie zugleich auf. Denn Lesen ist ein doppelter Akt. Es ist die rekonstruierende Hinwendung zur Welt, indem man sich, gebeugt über das Buch, erst einmal von dieser Welt abwendet. Was sich daraus für das eigene Leben ergibt, wird sich erweisen. Darum, ja darum lese ich.


Ein kleiner Nachtrag

Ich freue mich sehr, dass mein Beitrag in die von Sandro Abbate initiierte Anthologie „Warum ich lese. 40 Liebeserklärungen an die Literatur“ aufgenommen wurde.

Warum ich lese. 40 Liebeserklärungen an die Literatur. Hrsg. von Sandro Abbate. – Erlangen: Homunculus Verlag 2017 (12,90€)