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zum Vorlesetag 2017: Das Totenhemdchen Ein Märchen der Brüder Grimm

Lesen und Vorlesen

Egal, wie oft oder wie regelmäßig es geschieht, dem selbstständigen Lesen, dem Moment, in dem es gelingt, sich ganz zurückzuziehen aus dem Hier und Jetzt und sich in ein Wechselspiel mit einem Buch zu begeben, ist doch immer das Vorlesen vorgelagert. Oder hat jemand davon gehört, dass man zum Leseenthusiasten geworden sei ohne das Zutun einer anderen Person, die vorgelesen hat?

Daher verwundert es auch nicht, dass in dem von Sandro Abbate initiierten Sammelband Warum ich lese der weit überwiegende Teil der teilnehmenden Buchbloggerinnen und Buchblogger in ihren jeweiligen Beiträgen darauf hinweist, wie wichtig ihnen ihre Vorleserinnen und (leider in deutlich geringerer Zahl) ihre Vorleser gewesen waren. Zudem ist es von schöner Konsequenz, dass sich der Homunculus Verlag, der Warum ich lese verlegerisch verwirklicht hat, mit der „Stiftung Lesen“ zusammenarbeitet und sich für den Vorlesetag engagiert.

Mein Totenhemdchen – ein Hörangebot

Mein Beitrag zum Vorlesen kann in diesem Zusammenhang nur bescheiden sein. Wenn ich aber schon kein Vorleseangebot machen  kann, so doch zumindest ein Zuhörangebot. Zudem kann ich den Text zum Download anbieten. Gegen beide Angebote kann man Bedenken anbringen. Das Märchen ist im Internet verfügbar und befindet sich natürlich auch in den einschlägigen Sammlungen der Grimmschen Märchen. In Märchenanthologien aber ist es eher nicht zu finden, in der Regel nicht einmal in Auswahlsammlungen der Grimmschen Märchen. So stellt der ausdruckbare Text ein Zusatzangebot dar, und wenn nur eine einzige Person darauf zugreift, hat es sich gelohnt, ihn zur Verfügung zu stellen.

Vergleichbares gilt für das Hörangebot. Man muss kein geschulter Hörer sein, um festzustellen, dass der Sprecher keine prononcierte Radiostimme hat, dass seine Stimme nicht geschult ist und die Aufnahme nicht gerade professionell gemacht wurde. Außerdem gibt es  auf Youtube natürlich einen Hörbeitrag. Da wird der Text gekonnt vorgelesen von dem Schauspieler Thomas Dehler; die Aufnahme hat Studioqualität. Mir scheint aber, dass die Professionalität, mit der der Text eingelesen und verarbeitet wurde, seiner Wirkung eher entgegensteht. Von ihm geht eine Kühle aus, die zumindest meiner Lesart dieses Märchens nicht entspricht. Genau deshalb gibt es trotz seiner Unzulänglichkeiten diesen eigenen Versuch.

Mein Totenhemdchen Oder Über die Hartnäckigkeit einer gegenläufigen Empfindung

Auf meinem Weg zu Leser spielt das Totenhemdchen der Brüder Grimm eine zentrale Rolle. In meinem Beitrag für Warum ich lese habe ich darüber Auskunft gegeben. Man kann ihn auch auf meinem Blog nachlesen, ich muss mich also nicht wiederholen. Es darf allerdings etwas ergänzt werden, nämlich die hartnäckige Wirkung einer Empfindung.

In der Märchensammlung der Grimms trägt das Totenhemdchen die Nummer 109. Es hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung nicht einmal im Ansatz so durchsetzen und behaupten können wie die Klassiker unter den Märchen. Das liegt sicherlich nicht allein an der Vielzahl solcher Klassiker, sondern auch an dem Märchen selbst. Nicht nur wegen seiner Kürze – es ist eines der kürzesten, wenn nicht das kürzeste überhaupt – fällt es aus dem Rahmen. Es wirkt weniger märchenhaft als vielmehr gespenstisch. Es beginnt mit dem Schrecklichsten, dem Tod eines Kindes, zudem eines offensichtlich wohlgeratenen, und thematisiert eigentlich die Trauer der Mutter. Aber wie es erzählt wird, das ist schon ziemlich spooky. Da stirbt ein idealisierter Junge, eine vaterlose Figur, eine Art Jesuskind, das aber selbst erlöst werden muss. Denn so wie es nach seinem Tod ist, findet es keine Ruhe. Der Grund: die extrovertierte Trauer seiner Mutter, die so viel weint, dass deren Tränen das Totenhemdchen nass machen und das Kind nicht einschlafen kann. Es bedarf nicht der biographischen Zusammenhänge, auf die ich hinwies, um das ziemlich verstörend zu finden. Man muss nur den Text als Widerspruch zur gewohnten Märchenwahrnehmung auffassen und schon ist die Irritation da. Vor einigen Jahren hat Annette Pehnt auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht und geschildert. wie sie sich das Gute, mit dem ein Märchen doch enden müsse, herbeiassoziiert habe.

Dabei ist, liest man das Märchen mit erwachsen gewordener Nüchternheit und Distanz, in seinem intentionalen Gehalt doch ziemlich klar, fast schon aufdringlich. Es geht um Trauerbewältigung und Gottvertrauen. Das Kind, um seine Ruhe zu finden, fordert ja nicht den Trauerverzicht, sondern den Verzicht auf die nach außen drängende Trauerarbeit, das Ende der Tränen. Genau das tut es mit durchaus moralischen Anspruch: Du, Mutter, trägst dafür Verantwortung, dass ich meine Ruhe nicht finde, dass ich hier rumgeistern muss. Also, wenn du mir helfen willst, so reiß dich am Riemen. Und es funktioniert! Die Mutter kanalisierte quasi ihre Tränen und „befahl“ [also: anvertraute oder überantwortete] dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig“.

Das obligatorisch gute Ende des Märchens liegt genau in dieser Haltung: Frömmigkeit und Selbstdisziplin. Einer solchen Vorstellung kann jede Menge Ideologiekritik hinterherschicken, wer will. Womöglich aber muss man das gar nicht, denn vielleicht kommt eine solche Wirkungsabsicht gar nicht bei den Lesern oder Zuhörern an. Von Annette Pehnt wurde das Märchen jedenfalls so nicht gelesen, und was mich angeht, so spüre ich einen eklatanten Widerspruch zwischen dem eigenen Leseverständnis und dem Empfinden, das das Märchen auslöst. So viel analytische Nüchternheit kann ich gar nicht aufbringen, um dem gegen alle Nüchternheit widerständigen Empfinden den Garaus zu machen. Die Macht des Gottvertrauens interessiert mich nicht. Was Bestand hat, ist der tiefe Eindruck vom toten Kind, das zur Mutter zurückkehrt und mit ihr spricht. Eine einst kindliche Phantasie, dergleichen könne tatsächlich geschehen, hält sich offensichtlich mit aller Macht, und fragt nicht nach dem angemessenen oder gar richtigen Verständnis. Ich fange aber an zu ahnen, warum meine Mutter, die ab und an versucht hatte, mir das Märchen, vor dem ich davonlief, nahezubringen, es anders lesen konnte. Ihr war Gottvertrauen eine vitale Option.

Literatur

Wer Kindern Grimmsche Märchen vorlesen möchte, sollte sie beiseite legen; es gibt optisch und haptisch ansprechendere und kindgerechtere Ausgaben. Wer sich mit den Märchen aber intensiver beschäftigen möchte, dem empfehle ich ich immer noch die von Heinz Rölleke herausgegebenen Ausgabe im Reclam-Verlag.

Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Hrsg. von Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam Verlag (22,95 €)

Auf die Anthologie der Buchblogger kann man nicht oft genug aufmerksam machen:

Warum ich lese. 40 Liebeserklärungen an die Literatur. Erlangen: Homunculus Verlag 2017 (12,90 €).