Der Mensch ist aber bloß ein verblassender Fleck auf der Wand.
Der letzte Satz im letzten Brief, datiert auf den 29. Dezember 1556. Absender: Jacopo Pontormo, Adressat: Michelangelo Buonarroti. Das Besondere dieses Briefes liegt, wenn man auf die Konstruktion des Romans schaut, in dem Umstand, dass er die Chronologie des gesamten Briefkonvoluts durchbricht, das zur Lektüre angeboten wird. Das, womit alles begann, steht am Ende. Soll der ganze Roman auf diesen Satz also hinauslaufen, als eine Art Quintessenz? Wir werden darauf zurückkommen.
In der im Roman überlieferten Reihenfolge habe er, so berichtet gleich zu Beginn der (fiktive) Herausgeber, die Briefe einem Antiquar in Arezzo abgekauft. Er habe schnell erkannt, dass es besser sei, in das Material nicht einzugreifen und es in seiner (fiktiv) authentischen Form als Buch anzubieten, ergänzt nur um ein vorgeschaltetes Register mit Hinweisen und kurzen Erläuterungen zu den zahlreichen Briefschreibern. Das Spiel mit einem solch fiktiven Herausgeber, mit dem Perspektiven beginnt, ist literarisch alles andere als neu und sicherlich auch schon virtuoser gehandhabt worden. Aber: Ja, es kann durchaus hilfreich sein, sich an diesen Seiten ein Lesezeichen zu machen, um schnell zurückblättern zu können, wenn man mal den Überblick verloren oder schlicht vergessen haben sollte, wer denn nur wer sei. Trotz der rund zwanzig unterschiedlichen Figuren – alle, wenn ich das richtig sehe, nach historischen Personen gestaltet – wird das nicht oft passieren. Denn Binets Roman übt einen starken Sog aus, zügig immer weiter lesen, also „drinbleiben“ zu wollen.
Das liegt nicht allein daran, wissen zu wollen, wer denn nun den Verfasser dieses letzten Briefes, den Maler Jacomo Pontormo, zu Neujahr 1557 in der Kapelle von San Lorenzo, Florenz, brutal erschlagen hat. Es ist also nicht allein dieses Krimimoment, die Neugier auf die Lösung des Whodunit, das dem Weiterlesen die notwendige Energie und Ausdauer liefert. Es ereignet sich in der Folge eine politische Intrige, die mit dem Mord an dem Maler Fahrt aufnimmt. Denn in der Wohnung Pontormos findet sich ein Bild des Malers, das Venus und Cupido darstellt; die nackte Göttin allerdings mit dem Gesicht der ältesten Tochter Cosimos I. aus dem Hause Medici, Herzog von Florenz. Die Vermeidung des Skandals auf der einen, dessen erstrebtes Lancieren in die Öffentlichkeit auf der anderen Seite wird zur Staatsaffäre zwischen Frankreich, dem Heiligen Stuhl und dem Herzogtum Florenz, wo eben Cosimo Ambitionen auf die Königswürde hat. Der Krimi ist deshalb auch eine Art historischer Politthriller, und das mit genretypischen Elementen. Intrigen, Zweikämpfe, wilde Ritte, Verfolgungsjagden durch das vom Arno überflutete Renaissance-Florenz lassen jene nicht zu kurz kommen, die Spannung und Action erwarten.
Aber bei all dem, ist der Roman auch noch einmal mehr, nämlich eine kunst- und auch literaturtheoretische Reflexion. Schon der Titel Perspektiven spielt an auf ein wesentliches Merkmal des Briefromans. Dessen Blütezeit war trotz vereinzelter Vorläufer erst zwei Jahrhunderte nach der hier erzählten Romanhandlung, also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seine Besonderheit besteht darin, dass das Erzählte gerade nicht von einer alles überblickenden ordnenden Hand dargeboten wird, sei es nun ein auktorialer oder auch ein Ich-Erzähler. Ein Briefroman besteht aus einer oder aus mehreren Stimmen, die mit hohem Authentizitätsanspruch Handlungszusammenhänge entstehen lassen, zugleich aber aus dem jeweiligen Moment und dem Erleben des gerade Schreibenden heraus erzählen. Binets Perspektiven nimmt dieses Strukturmerkmal auf, sprengt es aber zugleich, und zwar durch die schiere Vielzahl der sich mitteilenden Figuren. Sie alle, ohne Ausnahme, versuchen sich ins rechte Licht zu rücken. Sie schmeicheln, sie heucheln, sie protzen mit der eigenen Besonderheit und Leistung, sie artikulieren Halbwahrheiten, sie lügen. Ehrlich und authentisch sind sie so selten, dass man letztlich kaum einer ihrer Aussagen wirklich vertrauen kann. Wahrheit findet außerhalb des Erzählten statt. Es ist, vielleicht überspitzt gesagt, die Vielzahl an Perspektive, die die Perspektive verstellt. Die Schilderungen erzeugen Bilder, aber kein Gesamtbild. Gerade das wird deshalb nie fertig, entsteht erst in den Bezügen der Briefe und Schilderungen, wird immer wieder übermalt – wie die Fresken des Mordopfers in der Kapelle San Lorenzo. Den Schreiberinnen und Schreibern geht es um ein üppiges Ausfabulieren ihres eigenen Treibens. Die künstlerische Debatte der späten Renaissance, das, was wir seit Giorgio Vasari, im Roman so etwas wie der ‚Chefermittler‘ in dem Mordfall und der politischen Intrige, als Manierismus bezeichnen, wird zu einem Darstellungsprinzip des Romans. In der scheinbaren Offenlegung wird allzu oft das Eigentliche verdeckt. Was dabei vor die Hunde geht, ist faktische Wirklichkeit.
Und mit ihr das eingangs angesprochene Bild vom Menschen als verblassender Fleck an der Wand. Dessen Stellung als letzter Satz und die Vorstellungsbilder, die die Aussage weckt, machen die Anspielung auf Foucaults Schlussbild in „Die Ordnung der Dinge“ (1966) eindringlich. Was Foucault – sehr verkürzt – anzweifelt, ist die Souveränität eines selbstbestimmten Subjekts und sieht sich darin in den seit dem 18. Jahrhundert sich entwickelnden Humanwissenschaften bestätigt. Sie verdeutlichen, so Foucault, die anonymen Strukturen von Gesellschaften, Kulturen und Machtverhältnissen, in denen der Mensch als Gestalt der Wissensentwicklung eine „Erfindung“ sei, die auch an ihr Ende kommen könne. Deshalb sei es nicht ausgeschlossen, nein, man könne darauf „sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Strand.“
Dass sich Binet im Werk Foucaults gründlich auskennt, wissen wir spätestens seit seinem Roman Die siebte Sprachfunktion (2018). Man kann Perspektiven durchaus mit Gewinn als literarische Illustration dessen lesen, was Foucault entwirft als – ja, als was? Als Warnung? Als Prognose? Als Dys- oder Utopie? Jedenfalls zeigt der Briefroman in seinen Oberflächen- und seinen Tiefenstrukturen, dass der Einzelne nichts zählt, sondern sich als Marionette entpuppt, die zwar Fäden hat, deren Strippenzieher aber gesichtslos bleiben. Wer sich mit solchen Lesarten des Romans nicht anfreunden kann, liest aber immer noch einen höchst spannenden historischen Kriminalroman.
Laurent Binet: Perspektiven. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. – Hamburg: Rowohlt Verlag 2025
Quelle zum Foucault-Zitat: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. – Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1974 (stw. 96), S. 462.