„Il ladro di quaderni“ – Bei Licht ist alles zerbrechlich. Man muss kein Italienisch können, es bedarf sicherlich keiner Kenntnis verwandter romanischer Sprachen oder vager Erinnerungen an den eigenen Lateinunterricht in der Schule, um den Eindruck zu gewinnen, der deutschsprachige Titel habe nicht viel gemein hat mit dem Originaltitel des Romans, der 2023 im renommierten Turiner Einaudi Verlag erschien.
Übersetzt heißt der italienische Originaltitel „Der Heftedieb“. Er verweist auf ein kleines, aber wichtiges Handlungselement im Roman hin. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist der zu Beginn 14- oder 15-jährige Davide Buonasorte. Schaut man auf die Lebensverhältnisse des Jungen, so kann man den sprechenden Familiennamen (Buonasorte – Glück) nur als Zynismus seines bisherigen Schicksals verstehen. Er ist Schweinehirt auf dem kleinen Hof seines Vaters, den alle im Dorf, Tora e Piccilli, rund 40 Kilometer nördlich von Neapel, Fortunà nennen. Er ist überzeugter Faschist und begeisterter Anhänger von Mussolini, der das Führerprinzip auch als Familienmodell praktiziert, cholerisch, gewalttätig, unberechenbar. Seinem Sohn verweigert er jede Art von Bildung.
Davide ist zu Beginn des Romans im Jahr 1942 Analphabet. Zudem gilt er als minderwertig, weil er von Geburt an ein verkürztes Bein hat und hinkt. Er will aus seiner Bildungslosigkeit ausbrechen, ist fasziniert von Sprache und vom gedruckten Wort. So bemüht er sich heimlich, Lesen und Schreiben zu lernen. Um aber an Hefte zu kommen, in denen er seine zunächst autodidaktischen Versuche notieren kann, muss er sie stehlen. Gelegenheit findet er dazu, wenn ein fliegender Händler freitags auf dem Markt des Dorfes seine Haushaltswaren anbietet. So wird er zum Heftedieb. Zu Hause muss Davide darauf achten, dass vor allem sein Vater sie nicht findet, und die Hefte verstecken.
Hilfe in seinem Bemühen findet er bei Teresa, einer gleichaltrigen Freundin, Tochter eines Fabrikbesitzers, dessen Firma Seile herstellt. Davide fühlt sich zu diesem Mädchen hingezogen, deren Verhalten so anders ist als das der anderen, mit ihrem feinen Gespür für soziale Ungerechtigkeit und dem Mut, dagegen auch offen einzustehen.
Zu den ganz wenigen Dingen, die der junge Davide besitzt, gehört eine Spieluhr. Sie besteht aus einem Blechsockel, auf dem die Figur einer Tänzerin steht. Sie dreht sich um sich selbst, wenn man die Spieluhr aufzieht und endet schließlich mit ruckelnden Bewegungen. Wer solcher Art Spieluhren kennt, weiß, dass das aufgrund der ihnen eigenen Mechanik nichts Außergewöhnliches ist. Den Jungen aber scheint das zu irritieren:
Wenn sie aufgezogen war, kreiselte sie um sich selbst, zuerst ganz fließend, dann mit ruckelnden Aussetzern, und schließlich blieb sie unvermittelt stehen: Dann musste man sie von Hand wieder in die Ausgangsposition versetzen. Sie tat sich schwer, offenbar hatte sie auch ein kürzeres Bein.
Eines Nachts nahm ich sie auseinander, um mir den Mechanismus anzusehen, der sie zum Tanzen brachte, doch kaum hob ich ihn hoch, flogen die Federn und Zahnräder heraus. In derselben Nacht grub ich hinter dem Schweinestall ein Loch. Manche Triebfedern sind ein Geheimnis, legt man sie offen, gehen sie kaputt. Bei Licht besehen, ist jedes Ding zerbrechlich.
Hier haben wir die Textpassage, auf die der deutsche Romantitel Bezug nimmt. Eine tolle Stelle! Zum einen, weil die Tänzerin auf der Spielraum offenbar zu einer Projektionsfläche der eigenen Versehrtheit wird. Zum anderen, weil in dem kleinen Unterschied zwischen deutschsprachigem Buchtitel und der Aussage im Roman ein wesentliches Merkmal der Schreibweise Sollas deutlich wird. Bei Licht ist alles zerbrechlich – das ist zunächst einmal eine Aussage, die für sich Allgemeingültigkeit in Anspruch nimmt. „Alles“ umfasst konkrete Gegenstände, aber auch Unfassbares, Immaterielles wie Gefühle, Beziehungen, Konstellationen, Strukturen, was auch immer. Weil das so ist, neigt man lesend dazu, den deutschen Romantitel metaphorisch zu verstehen und alles, wirklich alles Erzählte auf seine Zerbrechlichkeit hin zu überprüfen.
Die Aussage der Figur im Roman aber bewegt sich auf einer anderen Ebene: „Bei Licht besehen, ist jedes Ding zerbrechlich.“ Wir sind weg von der fast schon naturgesetzlich daherkommenden Allgemeinaussage und befinden uns in einer Beziehung zwischen Betrachtendem und seinem Gegenstand. „Bei Licht
Als im Sommer 1942 neapolitanische Juden in das Dorf Tora e Piccilli verbannt werden, kommt Bewegung in die Romanhandlung. Denn unter den Verbannten befinden sich ein gleichaltriger Junge, Nicolas, und dessen Vater Giacchino. Gleich bei der ersten Begegnung, der Ankunft der Verbannten auf dem Marktplatz des Dorfes, ist Davide von dem Jungen ausgesprochen fasziniert:
Noch nie hatte ich einen schöneren Jungen gesehen. Der Gedanke erschien mir verboten, aus mehreren Gründen, und einer wog schwerer als der nächste: Meine Bewunderung galt einem Jungen, einem Juden, den die Faschisten verbannt hatten, und die wussten immer, was gut für uns war.
Nein, hier entwickelt sich nicht, wie zunächst spontan befürchtet, eine Homosexualität sublimierende Tonio-Kröger-Hans-Hansen-Beziehung, die sich, wie in Thomas Manns gleichnamiger Novelle, in einer im Werden sich befindenden, juvenilen Künstlerexistenz verkarstet und recht bald ziemlich langweilt. Die Faszination ist hier doch eine andere. Nicolas verkörpert das Andere, das körperlich Unversehrte, das Gebildete – und er ist zugleich als Jude, so wie Davide als verkrüppelter Schweinehirt, ein Paria. Wenn sich Davide zunächst noch an einem feigen Überfall auf den Jungen beteiligt, dann prügelt er ein auf das, was er ist und zugleich nicht ist.
Schnell aber entwickelt sich eine Dreierfreundschaft gemeinsam mit Teresa, die Davide hinausführt aus seiner dumpfen Bildungslosigkeit. Mit der Unterstützung vom Nicolas‘ Vater lernt er mehr als nur, sicher zu lesen und zu schreiben. Ihm öffnet sich eine Welt, die ihn schließlich Jahre später selbst zum Schriftsteller werden lässt.
Die drei jungen Menschen erleben einen intensiven Sommer der Freundschaft, die immer fester wird, dann aber auch Formen buhlender Konkurrenz der Jungen um Teresa zutage treten lässt. Dieses ambivalente Miteinander und Davides zunehmende Emanzipation von seinen Eltern bestimmen den ersten und zugleich umfangreichsten Teil des Romans, an dessen Ende sich die Wege der drei aufgrund unglücklicher Verstrickungen und Missverständnisse trennen.
Im zweiten Teil begleiten wir Davide, der aus dem Dorf geflohen war, für eine Reihe von Jahren in Neapel, wo er sich auf steinigem Weg als Autor und als Schauspieler etabliert und mit Soloprogrammen ein künstlerisch anerkanntes und auch auskömmliches Leben führen kann. Die emotionale Bindung zu Teresa und Nicolas verschleißt sich aber nicht und bekommt schließlich eine neue Dynamik. Sie führt ihn im dritten Teil nach Tora e Piccilli und damit an die Wurzeln der Freundschaft zurück. Dort begegnen sich die drei auch wieder. Ohne zu viel verraten zu wollen, wird deutlich, wie eng ihre Banden verknüpft sind.
Bis ins Schlussbild hinein bliebt der Roman getragen vom lakonischen Erzählstil des Ich-Erzählers und durchzogen von einer tiefen Melancholie. Das macht, neben anderen Aspekten, seine Besonderheit aus. Folgt man Davides Lebenslauf vom Anfang der vierziger bis in siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein, so könnte man ihn als Emanzipationsgeschichte, als Aufstiegsnarrativ durch Bildung, kurz: als Erfolgsgeschichte erzählen. Dem aber verweigert sich Gianni Solla, ohne behaupten zu wollen, er täte das Gegenteil. Sein Augenmerk richtet sich auf Bindungen und ihre (Ab-)Gründe, aber nicht auf die vermeintlich archaischen wie Familie oder Landschaft, so eindrücklich er sie auch zu zeichnen versteht. Was an Freundschaft, was an Liebe entsteht, welche Potenziale, welche Bedrängnisse daraus erwachsen, das hat er zu einem wunderbaren Roman geformt. Wäre die Vokabel nicht diskreditiert durch einen alten, weißen, blondgeschopften Narzissten mit orangefarbenem Teint sowie rassistischem und faschistischen Weltbild, könnte man Bei Licht ist alles zerbrechlich großartig nennen.
Gianni Solla: Bei Licht ist alles zerbrechlich. Roman. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. – Zürich: Diogenes Verlag 2024.
Eine weitere, sehr lesenswerte Besprechung des Romans findet man unter anderem auf Zeichen und Zeiten.