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Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit

„Ja, Daniel“, sagte er, „jetzt gehörst du dazu. Endlich.“

Es sind die Worte eines Vaters. Sie sind voller Hoffnung, vom Ende her betrachtet voller Illusion. Aber er scheint daran zu glauben, ist es doch schon der zweite Sohn, den er hinbringt, wo er ‚dazugehört‘. Vom nordsächsischen Guldenberg, diesem fiktiven Pendant zum realen Bad Düben, in den Westberliner Grunewald, ins evangelische Internat. Den Grund dafür absurd zu nennen, ist schon beinahe ein Euphemismus, denn er beeinflusst Lebenswege, Lebensschicksale. Weil Daniel Sohn eines evangelischen Pfarrers ist, darf er nicht die „Erweiterte Allgemeine Oberschule“, kurz EOS, besuchen, um dort Abitur zu machen. So will es die Staatsmacht. Doch man kann diese soziale Herkunftsdiskriminierung umgehen, denn es gibt den Viermächtestatus von Berlin und der schafft juristische Schlupflöcher. Schülerinnen und Schüler aus Ost-Berlin und der DDR können demnach auch in West-Berlin die Schule besuchen. Wir schreiben das Jahr 1958.

Ein anderes Leben soll beginnen für Daniel, den Ich-Erzähler. Daraus wird zunächst etwas und letztendlich wird daraus nichts. Daniel durchläuft den Bildungsgang eines gehobenen Bürgertums am Ende der fünfziger Jahre, besucht das Gymnasium, meistert dort mit einiger Anstrengung die Altphilologien, nimmt die Mathematik und die Naturwissenschaften in dem Maße mit, wie es zu der Zeit an einem altsprachlichen Gymnasium eben zu erwarten ist, und sieht sich gefördert und bestärkt in seinem immer deutlicher zutage tretenden Interesse für Literatur und das eigene Schreiben. Aber zum bildungsbürgerlichen Jungestablishment des Westens gehört er dennoch nicht. Seinesgleichen finden sich im Internat wie im Gymnasium im sogenannten „C-Zweig“ zusammen, all jene Kinder und Jugendliche, die aus der DDR und aus Ost-Berlin herübergekommen sind, um hier die Schule zu besuchen. Die Westberliner Schüler bezeichnen sie als „Russen“; sie verfügen nicht über die ökonomischen Möglichkeiten dieser Sprösslinge, genauer: aus dem gut betuchten Grunewald. Und so bleiben sie letztlich erneut unter sich, eine nicht immer konfliktfreie, sich aber gegenseitig stützende Gemeinschaft. Das wird von den Jugendlichen durchaus gesehen, wird auch angesprochen, wird jedoch nicht hinterfragt, zumindest nicht vom Ich-Erzähler. So wie seinerseits nichts hinterfragt wird. Der Rest ist, von den letzten beiden der insgesamt sechzehn Kapiteln abgesehen, ziemlich konventionelle Internatsgeschichte. Burg Schreckenstein für erwachsene Leser.

Ein harsches Urteil. Warum?

Der Stoff bietet eine Menge, und das nicht nur, weil die politische Lage, in der die Geschichte verortet ist, an Absurdität kaum zu überbieten ist. Die Situation, in der sich Daniel, sein Bruder und alle anderen Mitschüler aus der DDR befinden, ist so unglaublich infam, dass man sie sich nicht ausdenken kann. Aber sie ist im Erzählten real; sie war historisch real und fest verbunden mit den eigenen Lebensumständen Christoph Heins. Der Ich-Erzähler Daniel verkörpert weithin die Biographie seines Autors. Darüber hat er mehrfach berichtet. Aber der Roman bewegt sich nicht im literarischen Trend des Autofiktionalen. Dazu fehlt ihm die Reflexionsebene, das In-Distanz-Gehen zur Figur und ein Blick auf Abstand auf das fiktionale Alter Ego. Vielmehr scheint es, als käme der Autor nicht hinter seine Erzählfigur, blicke ihr bis vor die Stirn, nicht weiter. Daniel wird nicht zum fremden Freund, sondern bleibt ein Fremder. Heins distanzierte Erzählweise lässt das Hinter- und Untergründige der Figur nicht in Erscheinung treten, anders etwa als in seinen großen Romanen „Verwirrnis“ (2018), „Weiskerns Nachlass“ (2011), „Der Tangospieler“ (1989), „Horns Ende“ (1985) oder eben „Der fremde Freund“ (1982). Was genau das Funktionieren und Nichtfunktionieren dieser Erzählweise ausmacht, wäre einer Untersuchung wert, kann hier aber nicht geleistet werden.

So knallt der Roman jedem Versuch, Empathie mit den Figuren zu entwickeln, die Tür vor der Nase zu. Schließlich bleibt man als Leserin oder als Leser selbst unberührt vom Erzählten. Mehr noch vielleicht. Dieses Sich-Schicken Daniels in jede Situation, selbst noch in das recht rüde Ende der ersten Liebesbeziehung des Pubertierenden, erschreckt nicht einmal mehr. Man nimmt es hin. Es nervt auf Dauer höchstens.

Das ändert sich auch nicht (mehr), als im August 1961 das Ganze zusammenbricht. Während sich Daniel noch auf einem Sommertrip befindet, der ihn über Hiddensee nach Leipzig geführt hat, schließt die DDR ihre Grenzen und mauert sich ein. Beide Söhne begeben sich zu den Eltern, die mittlerweile in Ost-Berlin wohnen, wo der Vater eine leitende Position in der evangelischen Kirche eingenommen hat. Vom weiteren Schulbesuch im Westen sind sie abgeschnitten. Es sind vielleicht die interessantesten Passagen im Roman, in denen sich die Hoffnungen, an dieser Situation könne sich noch einmal etwas ändern, sich als Trugschlüsse erweisen. Die Grenze bleibt dicht.

Man stelle sich vor: Daniels Bruder besucht die Oberprima, ihn trennen wenige Monate vom Abitur, Daniel selbst knapp drei Jahre. Ein vergleichbarer Schulabschluss bleibt in der DDR aus bekannten Gründen aussichtslos. Beim Versuch, in Ost-Berlin eine Lehrstelle zu finden und zugleich die Abendschule zu besuchen, verschärfen sich die Repressalien. Während der ältere Bruder sich geschickt durchlaviert, wird Daniel selbst wegen scheinbar unbotmäßigen Denkens aus der Abendschule geworfen. Aber was macht das mit ihm? Wir wissen es nicht. Kurzfristig kommt er mit Fluchthelfern in Kontakt, übernimmt auch einmal eine kleine, recht ungefährlich Aufgabe, um dann aber seine „Karriere als Gesetzesbrecher“ zu beenden. Dieser Kommentar ist typisch. Es scheint so, als käme man nur mit Selbstironie an sich selbst heran, doch tatsächlich rückt man ab.

Und so endet auch diese Episode wie ein Abhakkriterium auf einem Katalog von Lebensbewältigungskompetenzen, der auf das Ziel hin ausgerichtet ist, zu lernen sich abzufinden. Das geht, weil die nächste Herausforderung schon ansteht, eine neue Liebe.

Und damit begann eine andere Geschichte:
Eine ganz andere Geschichte.

Finis

So endet der Roman, und man ist geneigt zu rufen: Nicht ernsthaft! Etwas endet, wie behauptet wird, nicht während, sondern weil eine Liebesgeschichte beginnt. Das „Finis“ markiert kein Ende, sondern die Abgeschlossenheit mit einem Lebenskapitel? „Nicht ernsthaft!“, möchte man wiederholen. Was erzählt wurde, verschwindet Unterm Staub der Zeit. So leid es mir tut: Wenn es so erzählt wird, gehört es da auch hin.

Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2023.