Unwiederbringlich gehört nicht zu den bekannten Romanen Fontanes. Stammte er nicht aus dessen Feder und würde er nicht getragen von den die Zeiten überdauernden und in den schulischen Kanon des Deutschunterrichts eingegangenen Romanen wie Irrungen, Wirrungen oder Frau Jenny Treibel oder auch Effi Briest, so wäre er wohl mitterweile vergessen. Zu Unrecht wäre es so!
Werkgeschichtlich steht der Roman zwischen der Kriminalerzählung Quitt (1891) und Frau Jenny Treibel (1893). Er erschien im November 1891 mit der Angabe des Folgejahres im renommierten Verlag Wilhelm Hertz. Seine stoffliche Grundlage bildet ein tatsächliches Ereignis, auf das Fontane einige Jahre zuvor aufmerksam gemacht worden war.
Auf den ersten Blick steht Unwiederbringlich ein wenig quer zum übrigen Romanwerk des Autors. Er gehört nicht zur Gruppe der sogenannten „Berliner Romane“, die ausschließlich oder zu einem großen Teil in der Hauptstadt spielen. Im Mittelpunkt der Handlung steht auch keine schillernde Frauenfigur, in der sich wie im Brennglas die Zeitläufte mit all ihren Konsequenzen und Folgen bündeln. Nein, die Dinge ereignen sich im schleswigschen Glücksburg an der Flensburger Förde und in Kopenhagen. Hauptfigur ist Graf Helmuth Holk; thematisch geht es um das Scheitern der Ehe mit seiner Frau Christine.
Dabei birgt der Roman ein ungeheuer großes Potential als Zeitroman, denn seine Handlung ist ausgesprochen sorgfältig zeitgeschichtlich eingebettet in den wachsenden Konflikt zwischen Dänemark und den durch Preußen und Österreich dominierten Deutschen Bund um die Zugehörigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein zum Königreich Dänemark. Der Handlungszeitraum umfasst die Jahre 1859 bis 1861 und markiert so die historische Phase vor der gewaltsamen Eskalation des deutsch-dänischen Krieges, der die Vormachtstellung Preußens in Mitteleuropa festigte und den Weg zur Gründung des Deutschen Reiches unter Bismarck mit vorbereitete.
Abzuhelfende Leseschwierigkeiten
Muss das derjenige, der heute zu dem Roman greift, wissen? Ist diese konkrete zeitliche Einbettung der Handlung nicht eher ein Hindernis, den Roman zu verstehen, und damit ein Grund, ihn gar nicht zur Hand zu nehmen oder schon nach wenigen Seiten wieder wegzulegen? Dieses Hindernis zu leugnen oder allzu rasch vom Tisch zu wischen, würde wahrscheinlich genau zu einer solchen Reaktion führen. Denn der Roman setzt ohne Zweifel einige, allerdings grobe Kenntnisse über die geschichtlichen und politischen Zusammenhänge voraus, ein Vorwissen, das Fontane von seinen zeitgenössischen Lesern wohl in der Tat erwarten konnte. Für uns können daraus durchaus Verstehensschwierigkeiten erwachsen; sie lassen sich aber leicht beheben. Dem Leseinteressierten rate ich zu einer kommentierten Ausgabe, wie sie derzeit bei Reclam oder DTV preiswert angeboten werden. Wer antiquarisch auf die alte, auf der von Helmuth Nürnberger herausgegebenen Hanser-Ausgabe beruhenden Ullstein-Taschenbuchausgabe zurückgreifen kann, sollte die Gelegenheit unbedingt nutzen. Für Fontane-Liebhaber ist die Große Brandenburger Ausgabe des Aufbau-Verlags ein Vergnügen, aber schon allein aufgrund des Preises kein Muss. In welcher dieser Ausgaben aber auch immer eine kurze Erläuterung zu historischen Zusammenhängen, Personen und Orten abzurufen, ist hilfreich, schmälert aber nicht das Lesevergnügen. Im Gegenteil! Denn der Roman generiert aus seinem zeitgeschichtlichen Kontext heraus Verstehensmöglichkeiten, erschöpft sich aber nicht darin.
Die Romanhandlung
sei hier nur kurz skizziert. Sie setzt im späten September 1859 ein, zu einem Zeitpunkt, als die Unvereinbarkeiten in der Ehe zwischen Helmuth Holk und seiner Frau Christine den Alltag des Zusammenlebens schon sehr deutlich bestimmen. Die zu Tage tretenden Spannungen sind ohne Zweifel auf die unterschiedlichen Charaktere, ja vielleicht sollte man sogar sagen: Mentalitäten der beiden Eheleute zurückzuführen. Hier der durchaus weltoffene, aber zur Oberflächlichkeit neigende Graf, dort die durch strenge pietistische Erziehung und durch eine tiefe Religiosität geprägte Christine Holk. Als der Graf an den dänischen Hof abberufen wird, um dort seinen Aufgaben als Kammerherr der dänischen Prinzessin nachzukommen, gewinnt die Zerrüttung an Dynamik. Holk gerät in den Bann zweier Frauen, Brigitte Hansen, der bildschönen und geheimnisvollen Tochter der Wirtin Holks in Kopenhagen, und Ebba Rosenberg, der Kammerfrau der Prinzessin. Ihren ebenso koketten wie geistreichen Capricen erliegt er schließlich und trennt sich zu Weihnachten 1859 offiziell von seiner Frau. Unmittelbar danach aber weist Ebba seinen Heiratsantrag zurück. Holk sieht sich genarrt und gescheitert, zieht unstet über mehrere Monate durch die Metropolen Europas und landet schließlich in London. Während dieser Zeit aber kommt es zu einer Wiederannäherung an seine Frau. Schließlich kehrt er nach Holkenäs zurück; beide heiraten erneut. Drei Monate nach der Hochzeit aber bringt Christine Holk sich um.
Stellenwert und Modernität
Reduziert man den Roman, wie hier vorhin geschehen, auf inhaltliche Zusammenhänge, so drängt sich vielleicht der EIndruck auf, es handele sich um die durchaus schlichte Geschichte eines simplen Unterhaltungsromans. Warum dann also Fontane, wenn ich ohne Wissen um geschichtliche Hintergründe dann auch Rosamunde Pilcher lesen kann?
Ganz einfach: Wegen der großen erzählerischen Kunst, die Unwiederbringlich prägt. Seine Vielschichtigkeit, sein Anspielungsreichtum, seine literarische Finesse zeigen einen Autor auf dem höchsten Grat seiner Kunst. Mit allergrößtem ästhetischen FIngerspitzengefühl gelingt es Fontane, die Haarrisse, schließlich die nicht mehr zu überbrückenden DIfferenzen in den Beziehungen der Figuren zueinander, aber auch deren innere Widersprüche und Zerrissenheit hervortreten zu lassen. Wer lernen will, wie man Dialoge schreibt, wie man Bewusstseinsverhältnisse, Denkweisen und Verhalten vielperspektivisch in den Blick nimmt, wie man das Verhalten von Figuren bewertet und zugleich diese Bewertung wieder relativiert, in ein neues LIcht rückt, weil jemand anderes sich dazu äußert, der lese diesen Roman.
Nichts ist dem Urteil des Lesers gewiss. Nicht das von nachvollziehbarer Frustration und zugleich einer gehörigen Portion Egoismus geprägte Verhalten Holks, nicht das durch Depression und Dogmatismus sich das Leben selbst schwer machende Gebaren Christines. Nicht das moralische Verpflichtungen schlicht leugnende und espritvolle Flirtverhalten Ebba Rosenbergs, nicht der gut gemeinte, aber hilflose Pragmatismus des Schwagers Arne von Arnesieck oder des Pastors Petersen.
Dabei gerät der Leser selbst in den Strudel der Meinungen und Perspektiven, der Infragestellung eigener Urteilsfähigkeit. Am Ende erscheint alles auf traurige Weise relativ. Dabei ist das Relative selbst aber nicht unschuldig, sondern zugleich auf bedrückende Weise ein Grund für den Tod eines Menschen, der aus dem eigens und durch das Versagen anderer geschaffenen Käfig nur heraus kommt um den Preis des Lebensverzichts. So ist Unwiederbringlich ein zutiefst verstörender, schrecklich moderner Roman, der bei aller Andersartigkeit im Dekor menschliche und gesellschaftliche Schwächen seziert, die an Gegenwärtigkeit nichts, gar nichts eingebüßt haben.
Theodor Fontane: Unwiederbringlich. Roman. Herausgegeben von Christine Hehle. – Berlin: Aufbau Verlag 2003 ( Große Brandenburger Ausgabe. Das Erzählerische Werk, Band 13).
Ich finde Blog-Beiträge, die auf Klassiker, in diesem Fall auf eher unbekannte Werke bekannter Autoren verweisen, eine ungemeine Bereicherung. Mich selbst verbindet zu Fontane eher eine Hass-Liebe. Ich habe ihn in der Schule gelesen, aber nicht mit sehr viel Freude. Im ersten Semester an der Uni habe ich Fontanes „Schach von Wuthenow“ sogar mehrmals gelesen, sicherlich auch aus dem Druck heraus, eine wichtige Klausur bestehen zu müssen. Aber ich habe damals gemerkt, dass große Werke nach mehrmaliger Lektüre verlangen und aus diesen dann auch eine ganze andere Bindung zum Werk entsteht. Viele Grüße
Danke, Constanze, für deine Rückmeldung. vielleicht war es ja mein Glück, in der Schule nicht mit Fontane konfrontiert zu werden, mal vom „Herrn Ribbeck“ und „John Maynard“ abgesehen. Ich stieß auf ihn erst Mitte des Studiums, und auch da erst relativ spät. Seither aber lässt er mich nicht los.
Mein (erstes) Lese-Projekt „Fontane lesen“ werde ich auf alle Fälle weiterführen, wenn auch freilich in unregelmäßigen Abständen, bis zumindst alle Romane vorgestellt worden sind.
Viele Grüße
Peter
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Ich habe „Unwiederbringlich“ im Rahmen meiner Masterarbeit gelesen, in der es um Unterstreichungen als Teil einer Romanhandlung ging. In Unwiederbringlich gibt es zwei solcher Stellen: Christine markiert mit feinem Bleistiftstrich, zart, „leis und kaum sichtbar“, eine Zeile in einem Gedicht von Waiblinger: „Wer hasst ist zu bedauern, / und mehr noch fast, wer liebt.“ Ebba hingegen unterstreicht in einer Klatschnachricht jede Zeile, und zwar rot (mir kam gleich die – sicher unrechtmäßige – Assoziation zu roten Lippenstift).
Was für eine tiefsinnige literarische Charakterisierung dieser beiden so unterschiedlichen Frauen! Es ist unter anderem diese Technik Fontanes seine Personen indirekt durch derartige Details zu charakterisieren, die seine Werke zu mehr als nur Unterhatungsliteratur macht; viele andere Gründe hast Du in Deinem wertvollen Beitrag genannt.
Vielen Dank!
Eva