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Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin

Eine Binsenweisheit: Man liest nie voraussetzungslos. Auszuschließen ist deshalb auch nicht, dass derlei Voraussetzungen im wesentlichen Maße nicht nur den Eindruck, sondern auch das Urteil über das Gelesene prägen. Das gilt natürlich ebenso für jene Voraussetzungen, die man nicht hat und die deshalb andere Voraussetzungen generieren.

Warum sagt er das?

Nun ja, verfolgt man die Buchbesprechungen zu Friedrich Christian Delius‘ neuem kleinen Roman Die Liebesgeschichtenerzählerin, vor allem jene im Print-Feuilleton, stößt man nicht selten auf durchaus skeptische Einschätzungen und Urteile. Begründet werden die Bedenken immer wieder mit Hinweisen, dergleichen Thematik könne man ja schon in früheren Romanen des Autors lesen. Genannt werden dann Der Königsmacher (2001) und Bildnis der Mutter als junge Frau (2006). Die Liebesgeschichtenerzählerin erscheint vor diesem Hintergrund schnell als bloßer literarischer Aufguss. Glücklich vielleicht dann jener, der die erwähnten Vorgänger gar nicht kennt und sich dem neuen Roman unbefangener, mag sein: voraussetzungsärmer nähern kann.

Marie von Mollnitz, geborene von Schabow, befindet sich im Jahr 1969 für insgesamt drei Tage in Den Haag und Scheveningen, später in Amsterdam und Frankfurt auf einer Recherechereise. Die mittlerweile 50-jährige Mutter von vier Kindern kann sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen und Ideen und Skizzen zu gleich drei unterschiedlichen Liebesgeschichten weitertreiben mit dem Ziel, endlich, endlich als Schriftstellerin arbeiten zu können und wahrgenommen zu werden. Vor Jahren hatte sie ein Buch über die Widerstandskämpferin Elisabeth von Thadden veröffentlicht, durchaus wohlwollende Rückmeldungen erhalten, ihre eigenen Ambitionen als Schriftstellerin aber nicht voranbringen können. Nachkriegszeit, Wiederaufbau, Familie, Kinder, das Übliche halt, das den Frauen Grenzen setzte, Grenzen, die von allen Seiten stillschweigend als Selbstverständlichkeit hingenommen oder zumindest akzeptiert wurden, Grenzen, die auch die Hauptfigur nicht in Frage stellt.

Doch jetzt! Drei Tage, um dem Leben ihrer Vorfahren näher zu kommen. Dem ihrer Ur-Ur-Ur-Großmutter, die eine illegitime Nachfahrin des niederländischen Königs WIllem I. war; dem ihres Vaters, der in den Wirren der Weimarer Republik von U-Boot-Kommandanten zum gottesfrommen Prediger wurde; dem eigenen Leben, dem die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs Lebensperspektiven zerschlug und Neuorientierungen abforderte.

Hier auf der Reise laufen diese Fäden zusammen, verknoten sich ineinander, erzeugen Vorstellungs- und Erinnerungsbilder. Erkennbar wird aber ncht, wie Marie bei allem Bemühen diese Fäden zu Erzählstrukturen fügen kann. Nur auf den ersten Blick erstaunt deshalb, wie schnell sie ihren „Wilhelminen-Roman“ aufgibt, als das Den Haager Archiv, in dem sie dazu recherchiert, die Zusammenarbeit abbricht. Sein Direktor reagiert empfindlich, als er hört, aus den Recherchen solle ein literarisches Werk erwachsen. Das würde ja, im Gegensatz zu einem historischen Aufsatz, tatsächlich gelesen.

Jetzt kann ich mich auf das stürzen, was mir genauso wichtig ist, die Liebesgeschichte der Eltern und was daraus wurde, die Liebesgeschichtenerzählerin kooperiert mit der Widerstandserzählerin, ach, es ist herrlich, in aller Freiheit planen und arbeiten zu können, wie bin ich dem Vater dankbar, wie bin ich Herrn Paelinck [d.i. der Archivdirektor] dankbar, und ihr Holländer alle, die ihr Angst habt vor den Liebesgeschichten eurer Könige, ich liebe euch –

Doch auch die Lebens- und Liebesgeschichte der Eltern gewinnt keine Gestalt, keine Form. Sie bleibt bruchstückhaft für diejenige, die sie aufzuschreiben versucht. Für den Leser aber ergibt sich aus der Sammlung dieser Bruchstücken ein Gesamtbild. Wenn Frauke Meyer-Gosau in der Süddeutschen Zeitung beklagt, dass am Ende nur Skizzen blieben, so muss man der Beobachtung beipflichten, der urteilenden Schlussfolgerung jedoch widersprechen. Das, genau das ist ja das entscheidende Moment. Delius gelingt es ja gerade, aus dem, was die Hauptfigur nicht gestalten kann, ein Bild familiärer Beziehungen, historisch bedingter Abhängigkeiten und persönlicher Schicksale deutlich hervortreten zu lassen. Auch wenn das Ende letztlich offen blebt, so verstärkt sich doch der Eindruck, dass die Liebesgeschichtenerzählerin niemals ihre Geschichten erzählen wird. Sie kehrt am Ende zurück in ihre Familie, durchaus mit einem unguten Gefühl, wie es um ihre Ehe bestellt ist, zurück, so ist stark zu vermuten, in die Rollenzwänge, aus der sie für kurze Zeit austreten konnte.

Was zeigt der Roman? Die traurige Geschichte künstlerischen Scheiterns? Die Illusionen einer kulturell interessierten und literarisch ambitionierten Frau, die ihre Möglichkeiten überschätzt? Vielleicht aus das. Aber es bleiben diese drei Reisetage.

Eine Bahnfahrt wie diese war eine der seltenen Gelegenheiten, das, was in ihr steckte, das Erinnerte und das Gelesene, das Durchdachte und das Neue, das Schwierige, das Ungelöste und das Schlichtschöne, das Widersprüchliche und das angebich Verlässliche vor sich selbst auszusprechen, zurechtzurücken und weiterzutreiben, es gab nicht viele Gelegenheiten, die alten Geschichten einfach losspringen zu lassen, ungestört von Kindern, Mann und Pflichten egozentrisch zu sein und die Wunschkraft zu schärfen und in schöne Pläne zu verwandeln und einmal wieder zu staunen, eine Überlebende zu sein –

Tage also, die Marie als Zeit des Glücks erleben durfte, des Glücks, auf diese Weise ganz bei sich zu sein. Mag sein, es war nicht mehr drin für diese Frau im Jahr 1969 (damals wie heute?). Aber das Mögliche, das hat sie drei Tage beim Schopf gepackt und genossen. Drei geglückte Tage; sie in seinem Leben gewonnen und gestaltet zu haben, kann nicht jeder von sich behaupten. Sie festgehalten zu haben, das ist die Leistung dieses Romans, vor dem die Frage, was davon schon in andere Erzähltexte eingeflossen ist, weit, sehr weit in den Hintergrund tritt.


Friedrich Christian Delius: Die LIebesgeschichtenerzählerin. – Berlin: Rowohlt Berlin Verlag 2016 (€18,95).

Nachgelesenes

Sehr schöne Blog-Besprechungen findet sich bei intellectures und bei Zeilensprünge.

Neben Frauke Meyer-Gosau in der Süddeutsche Zeitung zeigte sich auch Jürgen Verdorfsky in der Frankfurter Rundschau skeptisch gegenüber den Roman. Zuspruch erhielt er hingegen bei Tilman Krause in der Welt und bei Oliver Pfohlmann im Tagesspiegel. In den Literaturredaktion der Rundfunkanstalten findet er durchweg viel Zuspruch. Ein Beispiel dafür findet man beim Deutschlandfunk.