Leseempfehlung
H. ist ein ausgesprochen freundlicher, belesener und gebildeter Mann. Ihn zu kennen, ist ein großes Glück, nicht zuletzt weil man immer wieder bemerken darf, dass seine Charakterzüge und Eigenschaften nicht auf Haltungen von gestern, sondern auf das weisen, was notwendig ist. Dabei treten sie auf angenehm zurückhaltende Art in Erscheinung. H. drängt weder sich, noch seine Meinung auf, alles Nötigende ist ihm fremd. Niemals würde er sagen: Ich habe ein tolles Buch gelesen, das musst du, das müsst ihr unbedingt auch lesen! Nein, bei ihm heißt es: Es war über weitete Teile amüsant, ich fühlte mich über mehrere Abende gut unterhalten. Dann lächelt er mit einem Blick, der nicht verrät, ob er seine Zuhörer anschaut oder für Momente in sich selbst zurückkehrt. Zudem steht die Einschätzung auch nicht am Beginn, sondern am Ende seiner Ausführungen. So wird nachvollziehbar, worüber er amüsiert war und warum er sich gut unterhalten fühlte – von Marc Uwe Klings Bestseller Qualityland.
Dabei erzählt H. von diesem merkwürdigen wie doch so bekannt erscheinenden Land Qualityland, das in einer ebenso unbestimmten wie nahen Zukunft aus einer PR-gesteuerten Namensumwidmung entstanden war. Das alte Gemeinwesen war nach der dritten ökonomischen Jahrhundertkrise innerhalb von zehn Jahren heruntergewirtschaftet und wurde nach reinen Marketing-Prinzipien neu geordnet. Zu der Neuordnung gehören eine neue Zeitrechnung, Qualitytime, aber ebenso auch eine Vielzahl von Sprachregelungen. Die inflationäre Verwendung des Superlativs – alles ist das Schönste, das Größte, das Beste – prägt die Wirklichkeitswahrnehmung. Außerdem ist klar, wie die Antwort auf jede Frage lautet, nämlich: OK. Und selbst die Menschen haben neue Familiennamen. Sie heißen nicht mehr Müller, Schmitz oder Meier, sondern tragen im Nachnamen den Beruf des Vaters (bei männlichen Geburten) oder der Mutter (bei Mädchen) zum Zeitpunkt der Zeugung.
Eine der Hauptfiguren des Romans heißt deshalb auch Peter Arbeitsloser. Er selbst verschrottet Computer und Roboter, betreibt also eine Art Ein-Mann-Unternehmen zur Hardware-Entsorgung. Bei ihm landen defekte Drohnen, Kampf- und Sexroboter, weil sie nicht mehr so funktionieren wie sie sollen. Da begegnen wir unter anderem einer Flugdrohne mit Höhenangst, einen Kampfroboter mit moralischen Skrupeln und einem Sexroboter, der sich verliebt hat. Nur dass Peter Arbeitsloser sie nicht zerstört, sondern ihnen in seinem geheimen Keller ein Weiterleben ermöglicht.
Die Umwelt der Menschen ist bis in die letzte Nische durchdigitalisiert. Es gibt neben den ganzen Drohnen und Robotern selbstverständlich selbstfahrende Autos und jeder Mensch hat einen persönlichen Assistenten. Der sitzt ihm im Ohr und regelt auf der Grundlage seiner Einbindung ins öffentliche Informationsnetz alle wesentlichen Belange. Folge dessen ist ein extrem hohes Maß an Fremdbestimmtheit des Einzelnen durch diese Mini-Maschine, der man sich nur mit größter Mühe widersetzen kann. Alle Menschen sind gleichzeitig klassifiziert durch ein Punktesystem, das sie in ein Ranking zwängt und aufgrund dieses Rankings nicht nur mit Informationen, sondern z.B. auch mit Freunden und Lebenspartnern in Verbindung bringt. Durchdrungen und dominiert wird das gesamt Alltagsleben durch ein Unternehmen, das TheShop heißt. Obwohl es nach wie vor politische Strukturen gibt, wird Qualityland durch dessen Marktmacht gesteuert. Was wir vorfinden, ist ein hocheffizienter Überwachungsstaat zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen.
Die Handlung kommt schließlich in Gang durch den Umstand, dass dem Unternehmen ein Fehler unterläuft. Denn es stellt Peter Arbeitsloser einen rosafarbenen Delfinvibrator zu, den er nicht bestellt hat. Dessen Bemühungen, dieses Teil wieder zurückzugeben, ermöglichen einen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse, die ebenso komisch wie bizarr sind. Marc Uwe Kling schüttet in der Tat ein Füllhorn von Einfällen aus, die die Verhältnisse karikieren und zugleich als gar nicht so fremd erscheinen lassen.
So wurde verständlich, warum sich H. auf ansprechendem literarischen Niveau gut unterhalten fühlte. Das Buch also wollte gelesen werden.
Leseerfahrung
Gleich vorweg: Den von Freund H. geschilderten Gesamteindruck konnte ich bestätigen. Zwei Aspekte aber, die ich beim Zuhören überhört oder aber beim Lesen anders wahrgenommen habe, möchte ich ergänzen. Entgangen war mir, als H. das Buch vorstellte, dass der Roman zwei Erzählstränge besitzt, die lange Zeit scheinbar unverbunden nebeneinander herlaufen, gegen Ende aber verknüpft werden. Im zweiten Erzählstrang geht es um anstehende politische Wahlen, die notwendig werden, weil vorhergesagt wird, dass in 72 Tagen die Präsidentin des Landes sterben werde. Rechte Parteien tummeln sich in einem an amerikanischen Vorbildern orientierten Wahlkampf. Aussichtsreicher Kandidat der Demokraten ist aber ein Android namens John of us. Der erweist sich im Gegensatz zu seinen ‚menschlichen‘ Parteigenossen als der einzige, der keine radikal wirtschaftsliberalen Postionen vertritt, sondern aus rein rationalen Erwägungen und unter Berücksichtigung aller Daten, auf die er frei zugreifen kann, soziale Programme propagiert und sich damit den Widerstand der eigenen Leute einhandelt. Am Ende entwickelt sich daraus ein klassischer Showdown.
Kling hat bei den zahlreichen öffentlichen Präsentationen und auf der Homepage zum Buch seinen Roman eine „lustige Dystopie“ genannt. Mit dergleichen hatte ich nach den Schilderungen H.s auch gerechnet und war überrascht, andere Reaktionen bei mir festzustellen. Der Roman weist eine Reihe von Zuspitzungen auf, die ebenso hellsichtig wie böse sind, die aber alles andere sind als lustig. Diese Beobachtung bezieht sich nicht nur auf den Umstand, dass der Android sich als der einzig menschliche, weil ethische und soziale Fragen in den Blick nehmende Politiker entpuppt, der dem Leser auf den rund 380 Seiten begegnet. Viel bedrückender erscheint mir noch, dass wir einen Gesellschaftsentwurf vorgeführt bekommen, mit dem sich die Mehrheit der Bevölkerung vollkommen einverstanden zeigt. Da ihre Bedürfnisse befriedigt werden, sind vielen von ihnen politische Mitspracherechte und die Wahrung demokratischer Strukturen vollkommen egal. Deutlich wird das an einer Art Gründungsantimythos, nach dem Qualityland geschaffen worden sei:
Eigentlich hatten die Kreativen von WeltWeiteWerbung in den Gründungstagen nämlich vorgeschlagen, das Land „EqualityLand – Land der Gleichberechtigung“ zu nennen. Eine Umfrage hatte ergeben, dass 25,6 Prozent den Namen „gut“ oder „eher gut“ fanden, 12,8 Prozent fanden den Namen „schlecht“ oder „eher schlecht“, 51,2 Prozent hatten dazu keine Meinung und der Rest hatte die Frage nicht verstanden. Da also die Mehrheit dafür war, hätte man das Land fast „EqualityLand“ getauft, doch da hatte Tonys Vater, damals Finanzminister, eine Eingebung. Mit einem kleinen Strich seines Füllfederhalters tilgte er den ersten Buchstaben des Vorschlags und machte aus „EqualityLand“ „QualityLand“. Auf einer Pressekonferenz sagte er: „Ich weiß nicht, wie es ihnen geht, aber faire Löhne hin oder her, ich als Konsument würde jeden Tag des Jahres ein Produkt ‚Made in QualityLand‘ einem Produkt ‚Made in EqualityLand‘ vorziehen“.
Hier wird mit viel Bissigkeit Satire zur Realsatire, bewegt sich der Roman, auch wenn man mir Pessimismus und Misanthropie vorwerfen mag, ganz nah an konkreten Zukunftsperspektiven.
Analogien zu Dave Eggers Welterfolg The Circle (2013) drängen sich beim Lesen von Qualityland sicherlich auf, am meisten aber beschäftigen mich Analogien und Unterschiede zu Eugen Ruges letztem Roman Follower (2016). Ruges Roman war zweifellos literarisch ambitionierter (was nicht zwangsläufig heißt: besser oder interessanter). Mit seiner Figur Nio Schulz rückte er die Auflösung des Individuums durch eine radikale Digitalisierung stärker in den Fokus und dämpfte den Eindruck, was er schildere sei satirische Überzeichnung. Seine Dystopie war gewiss nicht ‚lustig‘. All das ist in Klings Qualityland abgeschwächter. Kling scheut nicht die satirische Zuspitzung, sondern er sucht sie, das allerdings ohne zu überdrehen. Zugleich öffnet er den Blick – und das eben stärker als Ruges Roman – auf konkrete gesellschaftliche und soziale Strukturen, auf etwas, das man vielleicht etwas pathetisch als kollektive Bewusstseinsverhältnisse bezeichnen kann. Wenn wir das in dieser Zuspitzung sehen, dürfen wir uns von der Machart des Romans in der Tat gut unterhalten fühlen. Zugleich aber hat Qualityland das Potenzial, uns die Sorgenfalten tiefer in die Stirn zu treiben.
Den Roman gibt es in zwei sehr schön gestalteten Ausgaben, einer hellen (für Optimisten) und einer dunklen Gestaltung (für Apokalyptiker, wie es auf der Homepage heißt):
Marc-Uwe Kling: Qualityland. Roman. – Berlin: Ullstein Buchverlage 2017 (18.- €).
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Ich werde das Buch nächstes Semester besprechen. Als Dystopie zeigt es sehr schön, wie wertvoll und wichtig eine Politisierung und ein kritisch-reflektierter Technikbezug ist. Das fehlt mir irgendwie ein wenig, wenn ich mich mit jungen Menschen unterhalte. Und ich finde das Buch um Klassen besser als das Buch von Eggers von vor ein paar Jahren.
Danke für die Rückmeldung. Ich teile in allen Belangen deine Einschätzung, leider auch die Eindrücke von der Haltung vieler junger Menschen. Ich habe in diesem Zusammenhang gelernt, was „Yolo“ heißt: „You only live once“. Manchmal scheint es mir tatsächlich so: sie leben als gebe es kein Morgen.