George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen

Sachbücher über das Lesen und Schreiben von Literatur werden selten zu Bestsellern. Das ist im Falle von George Saunders‘ Bei Regen in einem Teich schwimmen sehr zu bedauern, wie gleich vorweggeschickt werden soll. Niemand Geringerer als Daniel Kehlmann lobte vor rund einem Jahr, als das Buch auf Deutsch noch nicht vorlag, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung dieses durchaus opulente Werk über den grünen Klee. Es sei „wirklich und ohne Übertreibung das beste Buch über das Schreiben“, das er jemals gelesen habe. Mangels belastbarer Masse an selbst gelesenen Büchern über das Schreiben müsste ich mit einer solch entschiedenen Lobeshymne vorsichtiger sein. Erst recht würde ich, wie Kehlmann es in einem Atemzug tut, Tolstois Krieg und Frieden nicht gleich als den besten Roman bezeichnen, der je geschrieben wurde. Da würde mir doch der eine oder andere Roman auf gleicher Höhenlinie einfallen. Das macht Kehlmanns Argumentation dann doch ein wenig – nennen wir es: subjektiv.

Aber lassen wir das, schrauben die Messlatte etwas herunter und stellen fest, dass Saunders in der Tat ein ausgesprochen lesenswertes Buch vorgelegt hat, ein unterhaltsames, auf angenehme Weise gelehrtes und lehrreiches.

Das liegt unter anderem daran, dass Bei Regen in einem Teich schwimmen zugleich eine Anthologie ist. Geboten werden sieben Erzählungen russischer Literatur des 19. Jahrhunderts. Dabei handelt es sich um drei Erzählungen von Anton Tschechow (Auf dem Wagen, Herzchen und Stachelbeeren), zwei von Leo Tolstoi (Herr und Knecht sowie Aljoscha, der Topf) und jeweils eine von Iwan Turgenjew (Die Sänger) und Nikolai Gogol (Die Nase). Keine der Erzählungen war mir im Vorfeld bekannt und jede war eine kleine Entdeckung, Gogols Die Nase sogar eine große. Um ihre Inhalte soll es hier aber nicht gehen, sondern um den Umgang mit ihnen.

Dazu gibt der Untertitel des Buches einen wichtigen Hinweis: „Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen“. Saunders eigene Ausführungen, die trotz der sieben Erzählungen immer noch den größten Raum einnehmen, haben einen unverkennbaren appellativen Charakter. Sie sind Gegenstand des Lernens, und das genau in der Reihenfolge, die der Untertitel ankündigt. Insofern irrt Kehlmann auch ein wenig. Es geht nicht allein um das Schreiben, ja nicht einmal erster Linie, auch wenn Saunders aus dem genauen textnahen Lesen heraus aufzeigt, wie Literatur mit ihrem Einsichtspotenzial Einfluss nimmt auf das eigene Schreiben. Die Erfahrungen aus dem Lesen und Schreiben wiederum verändern den Blick auf die Welt, prägen das eigene Leben als Autor und Lehrender. Entstanden sind Saunders‘ Ausführungen aus seiner Tätigkeit heraus als Professor an der Syracuse University für Creative Writing. Nicht zufällig ist dieses Buch deshalb auch seinen Studierenden gewidmet.

Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind zunächst handwerkliche Fragen, die sich ihm als Leser stellen. Er fragt sich, wie beim Lesen Empfindungen entstehen, die das auf bestimmte Art und Weise Erzählte geweckt hat. Denn das, so seine Grundannahme, ist literarisches Kalkül, entspringt genauer Überlegungen des Autors, der seine Leser und Leserinnen für seine Geschichte gewinnen will. Zu einigen Erzählungen fertigt Saunders sogar Listen an, die helfen sollen, das Gemachte des Textes anschaulich herauszupräparieren. Dabei geht es ihm aber nie allein um Textmechanik, sondern um etwas dahinter Aufscheinendes. Das fasst er an einigen Stellen seiner Ausführungen unter die Kategorie der moralischen Aufrichtigkeit.

Ein Kunstwerk bewegt uns dadurch, dass es aufrichtig ist, und diese Aufrichtigkeit zeigt sich in seiner Sprache, in seiner Form und in seinem Verzicht auf Versteckspiele.

Oder rund dreihundert Seiten später und entwickelt aus der Analyse einer anderen Erzählung:

Jede Erzählung, die moralische Schwächen aufweist (die also sexistisch, rassistisch, homophob, transphob, pedantisch, aneignend, plagiiert wirkt und so weiter), wird sich, wenn wir ausreichend analytisch herumschnüffeln, als handwerklich fehlerhaft herausstellen, und wenn diese Fehler behoben werden, wird sie auch (immer) eine bessere Erzählung.

Mann muss die Annahme nicht teilen, moralische Aufrichtigkeit und ästhetische Stimmigkeit seien nicht nur miteinander verbunden, sondern aneinander gebunden. Zu viele Erzählungen und Romane scheinen das zu widerlegen. Es widerspricht aber nicht dem, was Saunders mit Bei Regen in einem Teich schwimmen mit Gründlichkeit und Tiefgang aufzeigt, nämlich das, was der literarische Text mit uns als Leser oder Leserin macht. Deshalb ist das Buch mit seinen rund 540 Seiten auch keine Anleitung zum Schreibenlernen. Man würde sein Primäranliegen gründlich missverstehen, und für die meisten wären seine Ausführungen dann wahrscheinlich auch uninteressant. Er schickt uns in die begleitete Begegnung mit bedeutender Literatur, und wenn wir uns einlassen, dann begegnen wir – uns.

George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. – München: Luchterhand Literaturverlag 2022.

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