Robert Menasse: Die Erweiterung

Geschichte ist der größte historische Irrtum.
(Robert Menasse: Die Erweiterung)

Diarrhö! Zustand: akut; tendenziell letal. Ursache: politische Hasenfüßigkeit, Intriganz und Versagen.

Die europäische Idee, ihre Institutionalisierung in den Strukturen der EU und ihre vielfältigen Erweiterungsprojekte haben Durchfall. So zumindest kann man Robert Menasses Roman Die Erweiterung lesen, wenn man vom Ende her auf die vielfach verflochtenen Handlungsstränge zurückschaut und die Kreuzfahrt quer durchs Mittelmeer als metaphorische Reise wahrnimmt. Im sechsten und zugleich letzten Teil des Romans treffen nicht nur nahezu alle Regierungschef der EU-Staaten auf einem Kreuzfahrschiff zusammen, der Einladung des albanischen Ministerpräsidenten folgend. Dieser Kreuzfahrtdampfer wird zu einer Art Fliegendem Holländer. Hier laufen auch alle Handlungsstränge dieses über 650 Seiten umfangreichen Erzählwerks kunstvoll zusammen.

Robert Menasse hat sein Europa-Projekt, das er mit seinem preisgekrönten Roman Die Hauptstadt (2017) literarisch begonnen hatte, fortgesetzt. Ein Dritter soll folgen; aber diese Information beruht auf Hörensagen. Europa treibt den Autor um, das darf man wohl zu Recht behaupten. Das allein macht aber noch keinen guten Roman, sondern ehrt nur die Absicht. Robert Menasse gelingt allerdings nach seinem Vorgänger-Erfolg erneut ein großer Wurf. Was andernorts schon als Leseerfahrung beobachtet wurde, kann hier bestätigt werden: Zu Beginn ist man tatsächlich geneigt, erzählte Sachverhalte zu googlen, und zwar nicht, um dem Autor Fehler im Historischen nachzuweisen, sondern um zu verstehen, wie im Bau des Romans verbürgte Realität und Fiktionalität miteinander verwoben werden. Doch dieser Impuls lässt nach, weil Die Erweiterung einen solch großen erzählerischen Sog entfaltet, dass man sich immer mehr in die Erzählwelt hineingezogen fühlt.

Robert Menasse betont und erläutert in Gesprächen und Interviews immer wieder sein zentrales Anliegen, nämlich dies: Europa erzählbar zu machen. Und das heißt: Schicksale von Menschen aufzuzeigen, die Europa in seiner geschichtlichen Entwicklung und in den politischen Entscheidungen seiner Institutionen direkt berührt. Dazu fährt er im aktuellen Roman erneut ein großes Figurenarsenal auf, das von der Putzfrau reicht, die aus Nordmazedonien stammt, bis hin zum ranghohen politischen Beamten Adam Pradower in Brüssel, dessen Wurzeln im polnischen Widerstand gegen das kommunistische Regime zu finden sind.

Der will mit seinem einstigen „Blutsbruder“ Mateusz – die Namensgleichheit mit dem derzeitigen polnischen Ministerpräsidenten sind ganz bestimmt rein zufällig!!! – abrechnen. Dem wirft er Verrat an der polnischen Freiheitsbewegung und an der Idee eines demokratischen Gemeinwesens vor. Sie hatten sich als junge Widerstandskämpfer einst geschworen, dass ein solcher Verrat mit dem Tod des Verräters bestraft werden müsse. Diesen Schwur will Pradower schließlich auf dem Schiff einlösen.

Der Blutsbruder-Konflikt ist ein Beispiel dafür, wie weit Menasse in die Geschichte der Länder und der Figuren zurückgreift, um Chancen und verpasste Gelegenheiten europäischen Zusammenwachsens erzählerisch aufzuarbeiten, die wesentliche Aspekte des Dilemmas geradezu greifbar machen. Das Paradox wird im Vergleich zwischen den polnischen und albanischen Verhältnissen deutlich. Auf der einen Seite hat der Ministerpräsident eines EU-Staates eine Wahl und damit sein Amt gewonnen, indem er einen europakritischen Wahlkampf führt. Dem steht auf der anderen Seite ein Ministerpräsident eines Nicht-EU-Staates hat, gegenüber, der die Wahl gewinnen konnte, weil er einen radikalen EU-Kurs eingeschlagen hatte. Und das, obwohl offizielle Beitrittsverhandlungen aufgrund des (realpolitisch verbürgten) Vetos Frankreichs verhindert worden waren.

Albaniens Anstrengung um eine EU-Mitgliedschaft ist der Nährboden, aus dem sich die zahlreichen Einzelschicksale der Figuren heraus entwickeln. Hauptschauplatz wird Tirana, Albaniens Hauptstadt. Wichtiger aber, und zwar als symbolische Klammer der mit einem Ziegenkopf geschmückte Helm des albanischen Nationalhelden Skanderbeg. Der fristete bisher ein eher weithin unbeachtetes Dasein im Kunsthistorischen Museum in Wien, wird dort aber gestohlen. Schnell gibt es Anhaltspunkte, dass Spuren des Diebstahls nach Albanien führen. Dort wird im Umkreis des Ministerpräsidenten, der immer nur ZK genannt wird, jedenfalls schnell erkannt, dass sich aus dem Kunstraub politischer Profit schlagen lässt. ZKs engster Berater Fate Vasa nutzt schnell das symbolische Potenzial des Helmsymbols für eine ideologische Doppelbindung. Dieser Helm demonstriere die Zusammengehörigkeit aller Albaner, egal, wo in Süd- oder Osteuropa sie lebten, und stehe für eine Art Großalbanien. Diese im Grunde nationalistische Orientierung werde zugleich aber aufgehoben durch die angestrebte Integration in die Europäische Union. Dies könne man im eigenen Interesse propagandistisch nutzen.

Um dieses Konstrukt inszeniert Robert Menasse ein literarisches Ränkespiel, in dem er sein ganzes erzählerisches Geschick mit erkennbarer Lust entfaltet. Der Roman ist Krimi, Groteske, Slapstickklamotte, Essay, Liebesgeschichte und zugleich manches mehr, ohne dass der Autor dabei Gefahr laufen würde, sich zu überheben. Die Erweiterung schafft und hält Leselust aufrecht bis zum Ende der 650 Seiten. Er zeigt eindrucksvoll – wie sein Vorgänger, ja vielleicht sogar noch mehr -, was ein politischer Roman literarisch zu gestalten in der Lage ist.

Robert Menasse: Die Erweiterung. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2022.

Beitragsbildcollage:

Europafahne von NoName_13 auf Pixabay

Die Nutzung des Wiener Skanderbeg-Helms ist lizensiert unter Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication.

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