Das kann auch ins Auge gehen. Literarische Texte, die eine klar erkennbare Intention haben, die sich lesen lassen als Plädoyer für oder gegen etwas, laufen Gefahr, dass ihnen das genuin erzählerische Moment abhanden kommt, dass sie im ungünstigen Fall etwas Traktathaftes bekommen. Dann fragt man sich als Leser, warum der Autor denn nicht besser ein Sachbuch geschrieben hätte oder einen Essay. Aber eine Botschaft, bloß eingekleidet in Literatur — schade drum.
Einen solchen Einwand kann man gegen Robert Menasses Roman Die Hauptstadt nicht erheben. Ja, der Roman seziert mit großer Sorgfalt und in aller Deutlichkeit die administrativen Strukturen der Europäischen Union. Dabei, so scheint es, scheut er die satirische Überspitzung nicht. Es ist allerdings zu befürchten, dass, was als Satire anmutet, Realsatire ist. Politische Entscheidungsprozesse und Arbeitsabläufe in den Kommissionen nehmen eine Gestalt an, die die Satire überflüssig macht. Der Roman macht aber zugleich deutlich, dass die Europäische Union ein Gebilde ist, ohne das es ungleich schlimmer wäre. Denn erschreckend ist es schon, wie noch so sinnvolle Vorschläge zur Gestaltung der Union im Mahlwerk nationaler Egoismen zerbröseln und pulverisiert werden. Am Beispiel der Schweinemastpolitik im Widerspruch zwischen Weltmarktorientierung und Überproduktion zeigt Menasse diese Zusammenhänge in aller Deutlichkeit auf. Aber gerade angesichts dessen, wie Politik gemacht wird in der Europäischen Union, bleibt der Eindruck virulent, um wie viel stärker, ja gefährlicher doch solch nationale Interessen und Ränkespiele wären, gäbe es die Europäische Union nicht.
Robert Menasse erweist sich einmal mehr als entschiedener Verfechter des europäischen Gedankens. Gerade weil er das ist, deckt er die Fehlentwicklungen und Strukturmängel der Europäischen Union kompromisslos auf. Das aber tut er nicht im Gewand der Literatur, sondern genuin literarisch. Menasse hat sich selbst die Frage gestellt, ob man „EU erzählen“ könne. Nach der Lektüre mag man ihm – durchaus begeistert – erwidern: Sie haben gezeigt: Man kann!
Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.
Im Fokus der Leseraufmerksamkeit stehen rund ein halbes Dutzend Figuren, deren Lebensläufe, die sie in die Arbeit für die EU geführt haben, über geschickt komponierte Rückblenden immer deutlicher werden. Trotz der erheblichen Zahl ganz unterschiedlicher, biographisch überhaupt nicht aufeinander bezogener Werdegänge, gelingt es dem Autor, die vielen Erzählebenen zusammenzuhalten. Das Motto des ersten Kapitels „Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.“ markiert nicht nur den Stellenwert, den die EU politisch hat, sondern formuliert gleichzeitig so etwas wie einen poetologischen Grundsatz, der dem Roman eigen ist und den er auch auf beeindruckende Weise einlöst. In den insgesamt elf Kapiteln des Romans, ergänzt um einen Prolog und einen Epilog, wechselt der Erzähler immer wieder geschickt den Fokus, sei es dadurch, dass er abrupt die Perspektive wechselt, sei es durch den Umstand, dass die Figuren durch Zufall sich am gleichen Ort aufhalten. Dem Leser fällt es aber nie schwer, die Fäden aufzunehmen und so etwas wie einen roten Faden zu behalten.
Gibt es den, diesen roten Faden, der den komplexen Roman zusammenhält? Mir scheint, es sind derer zwei, einer auf einer metaphorischen Ebene, der andere auf einer durchaus konkreten Handlungsebene. Leitmotivisch läuft ein Schwein nicht nur durch Brüssel, sondern durch den gesamten Roman und unterlegt ihn mit einer Metaphorik, die vollkommen offen ist. Warum dieses Schwein immer wieder auftaucht, das Medieninteresse des ganzen Landes weckt und zu einer öffentlichen Debatte um Nutzen und Schaden dieses Vagabunden führt, was es auf der Deutungsebene mit dem Tier auf sich hat – all das bleibt in der Schwebe und veranlasst den Leser dazu, eigene Zusammenhänge und Verstehensansätze zu entwickeln. Am Ende ist das Schwein zwar mittlerweile für mehr als zwei Wochen verschwunden, aber der Roman schließt mit den Worten „À suivre“. Welche Fortsetzung sich da ankündigt, bleibt ungewiss.
Auf der Handlungsebene hält ein geplantes gesamteuropäisches Großprojekt die Erzählfäden beieinander. Das „Jubilee Project“, das anlässlich des 60-jährigen Bestehens der EU gefeiert werden soll und an die sogenannte ‚Parallelaktion‘ aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften erinnert, verbindet die Hauptfiguren des Romans.
Fenia Xenopoulou, unzufriedene und karrierebeflissene Leiterin der „Direktion C in der Generaldirektion für Kultur“, zuständig für Kommunikation, bekommt von dem deutschen Wirtschaftsbeamten Kai-Uwe Frigge den Hinweis, sie solle die Planung der Feierlichkeiten übernehmen und sich dadurch Meriten verdienen, die sie aus der ungeliebten Direktion C ins Wirtschaftsressort bringe. Dazu solle sie auf den Kern des Gründungsnarrativs der Europäischen Union weisen, zu dem schließlich auch Auschwitz gehöre. Daraufhin beauftragt sie ihren Referenten Martin Susmann, österreichischer EU-Beamter, mit der Ausarbeitung des Projekts. Es beginnt eine Suche nach Auschwitz-Überlebenden. Einer dieser Zeugen könnte der mittlerweile hochbetagte und von demenziellen Störungen geplagte David de Vriend werden, der gerade in ein Brüsseler Seniorenheim umgezogen ist und sich dort nur schwer akklimatisieren kann. Schließlich beschäftigt sich ein alternder, als Außenseiter und Querdenker geltender Wirtschaftsprofessor, Alois Erhart, ebenfalls mit der Bedeutung von Auschwitz für die europäische Einigung. Allein seine Rede, mit der er sich aus dem Think Tank zur europäischen Einigung verabschiedet und die über rund zehn Seiten erzählt wird, ist die Lektüre des ganzen Romans wert.
Außerhalb dieses „Jubilee Project“ bewegt sich die letzte der Hauptfiguren, der Brüsseler Kommissar Émile Brunfaut. Er wird mit einem mysteriösen Mordfall im Hotel Atlas konfrontiert und offenbar von höheren Instanzen daran gehindert, das Delikt aufzuklären. Robert Menasses Die Hauptstadt wird in den Feuilletons und in zahlreichen Literaturblogs mit sehr viel Lob bedacht. Bedenken werden allerdings immer wieder gegen diesen Erzählstrang angeführt. Die Kriminalhandlung wirke als Fremdkörper im Gesamtkonstrukt, bliebe im Vagen und werde nicht aufgelöst. Nimmt man die wertenden Absichten dieser Äußerungen weg, so muss man feststellen: Ja, das stimmt. Aber was da als Krimiarabeske den Roman ornamentiert, verhält sich nicht anders als die übrigen Erzählstränge auch. Sie laufen ins Leere wie das gesamte „Jubilee Project“, und diese weitreichende Sinnferne des gesamten Tuns zeigt sich hier wie dort.
So erweist sich der Roman als groß angelegte Farce, passagenweise hochkomisch, in Teilen von tiefgründiger Skepsis geprägt, sprachlich und literarisch formidable, von hohem Unterhaltungswert. Vieles wäre noch zu erwähnen, etwa die zahlreichen Nebenfiguren aus dem Beamtenapparat der EU oder den Lobby-Vereinigungen, die mit ihren Biographien ein beeindruckendes Soziogramm ergeben. Mag sein, dass dieser Roman gar das Zeug hat, ein neues Genre zu prägen, den EU-Roman. Ohne die literarische Leistung der übrigen Mitbewerber schmälern zu wollen: die Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis an Robert Menasses für Die Hauptstadt ist uneingeschränkt nachvollziehbar.
Robert Menasse: Die Hauptstadt. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2017 (24.- €)
Der Autor hat das Wort
Der Suhrkamp Verlag bietet ein ein interessantes Interview mit Robert Menasse zu seinem Roman an:
Außerdem liest er aus Die Hauptstadt:
Als kleiner Nachtrag Robert Menasses Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2017:
Bildnachweis zum Beitragsbild: Pixabay
Sehr pünktlich zum Preisgewinn, deine Rezension, als hättest dus gewusst …
Ehrlich gesagt: Ich bin nur nicht früher fertig geworden, und dann konnte ich auch warten bis die Entscheidung gefallen ist. Ich freue mich, dass dieser Roman den Preis bekommmen hat.
Ich muss gestehen, der Roman hat beim Durchblättern der Suhrkamp-Vorschau bei mir wenig Neugierde wecken können. Aber mit den sehr vielen lobenden Besprechungen in der letzten Zeit und auch dank Deiner wunderbaren Rezension sollte ich nun doch nach dem Buch greifen. Und jetzt holt der Roman noch den Deutschen Buchpreis…unausweichlich. Viele Grüße
Danke für deine freundliche Rückmeldung. Was auch immer die Vorschau suggeriert und die Besprechungen in Aussicht gestellt haben, ich finde, die Lektüre lohnt unbedingt.
Herzliche Grüße
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