Anmerkungen zu Literatur aus nächster Nähe
Keiner „Gewinnerzielungsabsicht“ zu folgen, gehört von Beginn an zu meiner Rezensionspraxis und zum Grundprinzip meines Blogs. Es gibt keine Affiliate-Links, es gibt keine Werbung, welcher Art auch immer. Zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplare werden in der Beitragsübersicht als solche gekennzeichnet. Die Inhalte der Beiträge, und das heißt erst recht: die wertenden Äußerungen sind unbeeinflusst von Erwartungen Dritter oder gar von Vorgaben. So verfahren zu können, ist mir ein Anliegen. Es beruht zugleich aber auch auf dem glücklichen Umstand, mich mit dem Blog bei niemandem und an keiner Stelle für anderweitige berufliche Aufgaben empfehlen zu müssen. Ich muss nicht für mich selbst werben. Ich muss erst recht kein Geld damit verdienen, sei der Ertrag auch noch so gering. Das alles schließt aber eine Befangenheit gegenüber Büchern und manchmal auch gegenüber Autorinnen und Autoren nicht vollständig aus.
Eine solche Befangenheit gilt in besonderer Weise für den vom Umfang her schmalen Roman, den ich an dieser Stelle vorstellen möchte. Denn es handelt sich um den ersten Roman meiner Ehefrau. Mir ist es wichtig, dass meine Leserinnen und Leser gleich zu Beginn wissen, dass es hier ganz eigene Befangenheiten gibt. Literaturkritisch sind die folgenden Überlegungen nicht. Hätte, was ich als fertiges Buch habe lesen dürfen und dessen Entstehung und Entwicklung ich miterlebte, mir nicht grundsätzlich zugesagt, gäbe es diesen Beitrag nicht. Es gibt ihn aber auch nicht, weil ich einen Lobgesang anstimmen möchte, um vielleicht schlicht die literarische Neuentdeckung des zu Ende gehenden Jahres 2022 zu feiern. Denn um es vorweg zu sagen: Es ist thematisch nicht meine Art von Literatur. Die Yoginis mit dem schon fast melodiösen Untertitel Ein Figurenroman in 13 Asanas ist Genreliteratur und bietet wohl insbesondere Leserinnen ein Angebot, das bei mir auf ein eher geringeres Interesse stößt. Das ist natürlich kein Qualitätsurteil; es gibt auch gute und schlechte Krimis. Aber würde ich das Buch in der Buchhandlung in die Hand nehmen, mir das Titelbild anschauen und den rückseitigen Klappentext lesen, würde ich es nicht kaufen, zumindest nicht für mich selbst. Aber ich habe mit dem Roman meine ganz eigenen Leseerfahrungen gemacht, und darüber möchte ich berichten. Nicht mehr.
Erlebte Entstehung
Yoginis ist ein Roman, der seiner Entstehung der Corona-Pandemie verdankt. Ohne die erzwungene Abgeschottetheit, den Rückzug in die eigenen vier Wände, den zumindest zeitweise eingeschränkten Zeitaufwand für die tägliche Berufsarbeit hätte es wohl nicht die Spielräume für dieses Projekt gegeben. Es war, so mein Eindruck, auch eine Möglichkeit, diese besondere Zeit schreibend auszuhalten. Dabei spielt der Roman nicht in den Anfängen der Pandemie, sondern davor. Ganz am Ende kommt man beim Vorweihnachtstreffen der Yogagruppe nicht nur darauf zu sprechen, wie fragwürdig doch der amtierende amerikanische Präsident sei. Man tauscht sich auch über die noch vagen und dem Hörensagen entsprungenen Informationen aus, dass in China irgendein merkwürdiges Virus aufgetaucht sei, um das man sich Sorgen mache. Mehr wird nicht erwähnt, damit aber – so viel kann ich vorwegnehmen – ein zweiter und dritter Teil vorbereitet. Ich kenne keine einzige Zeile der beiden Fortsetzungen, weiß aber, dass sie die Figuren während (Teil II) und nach dem Abklingen der Coronapandemie begleiten (Teil III). Die Trilogie lässt sich in ihrem Beginn also zeitlich genau bestimmen. Der erste Teil beginnt zwölf Wochen vor der erwähnten Weihnachtsfeier, mit der dieser Teil zugleich schließt. Der dritte Teil endet irgendwo im Jahr 2022. Genaueres weiß ich nicht.
In die Entstehung von Yoginis. Ein Figurenroman in 13 Asanas war ich nicht involviert. Ich bin auch alles andere als ein Kenner der Yoga-Szene und begleite das Interesse und das Engagement meiner Frau als Außenstehender. Bevor ich das erste Manuskript, genauer: einige Kapitel daraus zum ersten Mal in Händen hielt, wusste ich nicht einmal, was Asanas sind. Ich weiß mittlerweile, was Mudras sind, die den zweiten Roman strukturieren, habe aber nach wie vor keine Ahnung, was Pranayamas sind, die im dritten Teil eine Rolle spielen. Ich war ein eher distanzierter Begleiter des Romanprojekts, und bin es wahrscheinlich immer noch. Spannend wurde es für mich zum ersten Mal, als meine Frau mich bat, ein bestimmtes Kapitel zu lesen, weil sie wohl befürchtete, sie habe eine männliche Figur entworfen, in der ich mich hätte wiedererkennen können. Nein, um es kurz zu machen, ich konnte es nicht. Diese Figur hat in offenbar mehreren Überarbeitungen leichte Modifikationen erfahren; sie ist aber auch in der Endfassung nicht zu meinem Alter ego geworden. Die Figur hat – so viel Anekdote darf hoffentlich sein – allerdings auf meine Bedenken hin einen anderen Hund als Lebensbegleiter zugestanden bekommen.
Spannend und zugleich mit einer Reihe von Enttäuschungen verbunden war dann die Verlagssuche. Die Option des Selfpublishing stand im Raum, bevor sich der Detmolder Prinzengarten Verlag entschloss, zunächst einmal Yoginis, Teil I, zu verlegen. In der Folge erfuhr der Roman bis zur Drucklegung noch einmal einige Überarbeitungsgänge, allerdings wohl kaum noch in inhaltlicher und struktureller Art.
Erlesener Inhalt
Der Roman nimmt das Leben von insgesamt zwölf Frauen in den Blick. Ihnen wird jeweils ein Kapitel gewidmet, mit Ausnahme der Yogalehrerin Dörte, die sowohl im ersten wie im letzten Kapitel in den Mittelpunkt rückt. Sie bildet auch in den übrigen Kapiteln mit ihrer Yogaschule das Gravitationszentrum, um das sich die übrigen Frauenfiguren versammeln. Dörte ist letztlich immer da. Die Handlung konzentriert sich in den einzelnen Kapiteln zeitlich auf eine Yoga-Sitzung jeweils an einem Montagabend und entwirft in Rückblenden die Lebenszusammenhänge der teilnehmenden Frauen. Eingeschoben werden einzelne Yoga-Übungen, die von Dörte angeleitet werden, sowie Gespräche zwischen den Frauen. Diese Übungen, die einzelnen Asanas, kann man, wenn man möchte und – anders als ich selbst – dazu körperlich in der Lage ist, wahrscheinlich nachvollziehen. In einzelnen Passagen kann man den Roman wie eine Anleitung zu bestimmten Yoga-Übungen lesen. Doch das ist nicht sein Kern.
Der liegt in den Lebensgeschichten der zwölf Frauen. Wir begegnen Frauen unterschiedlichen Alters in einer Spanne zwischen knapp dreißig und über sechzig Jahren, unterschiedlicher Herkunft und Nationalität, unterschiedlicher Sozialisation und, natürlich, unterschiedlicher Lebenslagen. Die Summe ihrer Lebensgeschichten bietet in ihrer Vielschichtigkeit ein facettenreiches Gesamtbild weiblicher Lebensverhältnisse in unserem Land. Auffallend ist, dass bei den jüngeren Teilnehmerinnen der Yoga-Gruppe ein akademischer Hintergrund deutlicher hervortritt als bei den älteren Teilnehmerinnen, unter denen sich eine Rentnerin und eine Friseurin ebenso befinden wie eine Physiotherapeutin oder eine Buchhändlerin. Frauen aus sozialer Unterschicht und aus desolaten ökonomischen Verhältnissen begegnen uns nicht. Diesen Umstand kann man vielleicht kritisch herausstellen, kritisiert dann aber die Nichterfüllung einer erzählerischen Absicht, die der Roman nicht beansprucht. Vielmehr liegt dieser Umstand offensichtlich begründet in konkreten Realitätserfahrungen. Sich auf die Welt des Yoga einzulassen, ist, soziologisch betrachtet, kein Unterschichtenphänomen.
Umgekehrt formuliert: Yoginis ist aber auch kein Wohlstandsroman. Wer den Figuren unterstellt, letztlich plagten sie Luxusprobleme, muss sich eher Kritik an der eigenen Empathiefähigkeit gefallen lassen. Umgang mit dem Tod des Lebenspartners, Trennung, Kinder, Fernbeziehung, Einsamkeit, Fremdheit im eigentlich Heimatlichen, Überforderung und Sackgassenerfahrungen sind keine Bagatellen, sondern Erschütterungen des eigenen, hier im Roman weiblichen Selbst, die auch ohne Klimakrise, Krieg und Pandemie ausreichen, Menschen in die Knie zu zwingen.
Und Yoga löst die Sorgen und Probleme nicht! Wer befürchtet, nun mit einer meditativ-gymnastischen Heilsversprechung konfrontiert zu werden, mit dem man Lebensprobleme wegdehnen kann, wird sich im positiven Sinne getäuscht sehen. Aber Yoga erscheint als eine Option, zum eigenen Selbst eine Haltung zu entwickeln, die ganzheitlich ausgerichtet ist, ohne ins Anempfindende oder gar Irrationale abzugleiten. Das schließt die Duftkerzen im Yogaraum nicht aus, aber sie dienen der Atmosphäre, nicht der Benebelung.
Was am Ende des knapp 150 Seiten langen Romans bleibt, ist aber mehr als all das. Was bleibt, ist der Umgang der Frauen miteinander. In diesem Kontext mag das Wortfeld der Achtsamkeit etwas überstrapaziert sein, mag wechselseitige Resonanzfähigkeit etwas zu selbstverständlich gelingen, mögen die männlichen Neben-, eher Randfiguren zu schemenhaft bleiben (zumindest in meiner Wahrnehmung), so öffnet sich doch hinter den jeweils für knapp zwei Stunden geschlossenen Türen des Yogaraumes ein Feld, in dem über alle Unterschiede in den sozialen Herkünften, den biographischen Erfahrungen und persönlichen Temperamenten hinweg ein bedingungslos respektvolles und dialogisches, kurz: ein humanes Miteinander möglich wird, und zwar in einer Weise, die man mitnehmen kann, wenn sich am Ende einer Sitzung die Tür des Raumes wieder öffnet. An dieser Stelle entwickelt der Roman dann auch ein durchaus utopisches Potenzial, das in seiner Wirksamkeit nicht mehr abhängig ist von gymnastischen Übungen.
Erarbeitete Lesart
Die Lektüre des Romans ging einher mit für mich neuen und irritierenden Erfahrungen. Lasse ich die ersten sechs Jahre meines Lebens außen vor, in denen ich natürlich auch schon literarisch sozialisiert wurde, aber eben noch nicht eigenständig lesen konnte, so sind es doch rund 55 Lesejahre, die kontinuierlich mein Leben prägen. Ich habe, bedingt auch durch Studium und Beruf, unterschiedliche Formen und Strategien des Lesens gelernt, für mich adaptiert und bilde mir, hoffentlich ohne Eitelkeit, ein, ein durchaus erfahrener Leser zu sein. Aber all das hat mich nicht davor bewahrt, die Yoginis immer wieder auf außerliterarische Realien hin lesen zu wollen. Ich wollte offenbar Dinge aus dem eigenen Umfeld wiedererkennen. Die Lektüre hat bewährte und mir scheinbar selbstverständliche Leseroutinen in Frage gestellt. So legte ich mir zurecht, dass ein Yogastudio hier im Ort, das die Coronapandemie nicht überlebt hat, wohl als räumliche Vorlage gedient habe, um erst vor Kurzem zu erfahren, dass meine Frau die Räumlichkeiten überhaupt nicht kennt. Es war also nichts mit bewusster Adaption im literarischen Verarbeitungsprozess durch die Autorin, sondern es ist eher ein Beispiel dafür, wie sich Literatur und Vorstellungsbildung beim Lesen immer individuell verschränken. Der Text in meinem Hirn ist ein anderer als der, den ich gelesen habe, und wieder ein anderer, den meine Frau schrieb. Das gilt selbstredend für alle anderen Texte auch; hier aber wurde ich geradezu mit der Nase darauf gestoßen.
In Figurenaussagen habe ich ab und an typische Redeweisen und Formulierungen meiner Frau in Alltags- und beruflichen Gesprächen wiederentdeckt. Aber sie streuen sich. Keine der zwölf Frauenfiguren ähnelt auch nur in Ansätzen der Autorin – und doch war da immer wieder einmal der Eindruck, hier spräche Letztgenannte. Vereinzelt musste ich mich geradezu zwingen, die Figurenaussage in den Horizont eben der Figur zu rücken und nicht als verkappten auktorialen Kommentar zu registrieren. Die eigene unmittelbare Wirklichkeit und die Erfahrung im gemeinsamen Zusammenleben drängte sich wieder und wieder in die Lektüre hinein. All meine Leseerfahrung konnte mich nicht immer davor bewahren, in eine Art Schlüssellochguckerei zu verfallen, die ich andernorts oft genug bespöttelt habe. Ob ich den Yoginis. Ein Figurenroman in 13 Asanas gerecht werden konnte, mögen andere, die das Buch lesen werden, beurteilen.
Regina Esser-Palm: Yoginis. Ein Figurenroman in 13 Asanas. – Detmold: Prinzengarten Verlag 2022.