You are currently viewing Wolfgang Borchert: Die drei dunklen Könige (1946)

Wolfgang Borchert: Die drei dunklen Könige (1946)

Er tappte durch die dunkle Vorstadt. Die Häuser standen abgebrochen gegen den Himmel. Der Mond fehlte, und das Pflaster war erschrocken über den späten Schritt. Dann fand er eine alte Planke. Da trat er mit dem Fuß gegen, bis eine Latte morsch aufseufzte und losbrach. Das Holz roch mürbe und süß. Durch die dunkle Vorstadt tappte er zurück. Sterne waren nicht da.

Als er die Tür aufmachte (sie weinte dabei, die Tür), sahen ihm die blaßblauen Augen seiner Frau entgegen. Sie kamen aus einem müden Gesicht. Ihr Atem hing weiß im Zimmer, so kalt war es. Er beugte sein knochiges Knie und brach das Holz. Das Holz seufzte. Dann roch es mürbe und süß ringsum. Er hielt sich ein Stück davon unter die Nase. Riecht beinahe wie Kuchen, lachte er leise. Nicht, sagten die Augen der Frau, nicht lachen. Er schläft.

Der Mann legte das süße, mürbe Holz in den kleinen Blechofen. Da glomm es auf und warf eine Handvoll warmes Licht durch das Zimmer. Die fiel hell auf ein winziges rundes Gesicht und blieb einen Augenblick. Das Gesicht war erst eine Stunde alt, aber es hatte schon alles, was dazu gehört: Ohren, Nase, Mund und Augen. Die Augen mußten groß sein, das konnte man sehen, obgleich sie zu waren. Aber der Mund war offen, und es pustete leise daraus. Nase und Ohren waren rot. Er lebt, dachte die Mutter. Und das kleine Gesicht schlief.

Da sind noch Haferflocken, sagte der Mann. Ja, antwortete die Frau, das ist gut. Es ist kalt. Der Mann nahm noch von dem süßen, weichen Holz. Nun hat sie ihr Kind gekriegt und muß frieren, dachte er. Aber er hatte keinen, dem er dafür die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte. Als er die Ofentür aufmachte, fiel wieder eine Handvoll Licht über das schlafende Gesicht. Die Frau sagte leise: Kuck, wie ein Heiligenschein, siehst du? Heiligenschein! dachte er, und er hatte keinen, dem er die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.

Dann waren welche an der Tür. Wir sahen das Licht, sagten sie, vom Fenster. Wir wollen uns zehn Minuten hinsetzten. Aber wir haben ein Kind, sagte der Mann zu ihnen. Da sagten sie nichts weiter, aber sie kamen doch ins Zimmer, stießen Nebel aus den Nasen und hoben die Füße hoch. Wir sind ganz leise, flüsterten sie und hoben die Füße hoch. Dann fiel das Licht auf sie. Drei waren es. In drei alten Uniformen. Einer hatte einen Pappkarton, einer einen Sack. Und der dritte hatte keine Hände. Erfroren, sagte er, und hielt die Stümpfe hoch. Dann drehte er dem Mann die Manteltaschen hin. Tabak war drin und dünnes Papier. Sie drehten Zigaretten. Aber die Frau sagte: Nicht, das Kind. Da gingen die vier vor die Tür, und ihre Zigaretten waren vier Punkte in der Nacht. Der eine hatte dicke umwickelte Füße. Er nahm ein Stück Holz aus einem Sack. Ein Esel, sagte er, ich habe sieben Monate daran geschnitzt. Für das Kind. Das sagte er und gab es dem Mann. Was ist mit den Füßen? fragte der Mann. Wasser, sagte der Eselschnitzer, vom Hunger. Und der andere, der dritte? fragte der Mann und befühlte im Dunkeln den Esel. Der dritte zitterte in seiner Uniform: Oh, nichts, wisperte er, da sind nur die Nerven. Man hat eben zuviel Angst gehabt. Dann traten sie die Zigaretten aus und gingen wieder hinein.

Sie hoben die Füße hoch und sahen auf das kleine schlafende Gesicht. Der Zitternde nahm aus seinem Pappkarton zwei gelbe Bonbons und sagte dazu: Für die Frau sind die.

Die Frau machte die blassen Augen weit auf, als sie die drei Dunkeln über das gebeugt sah. Sie fürchtete sich. Aber da stemmte das Kind seine Beine gegen ihre Brust und schrie so kräftig, daß die drei Dunklen die Füße aufhoben und zur Tür schlichen. Hier nickten sie nochmal, dann stiegen sie in die Nacht hinein.

Der Mann sah ihnen nach. Sonderbare Heilige, sagte er zu seiner Frau. Dann machte er die Tür zu. Schöne Heilige sind das, brummte er, und sah nach den Haferflocken. Aber er hatte kein Gesicht für seine Fäuste.

Aber das Kind hat geschrien, flüsterte die Frau, ganz stark hat es geschrien. Da sind sie gegangen. Kuck mal, wie lebendig es ist, sagte sie stolz. Das Gesicht machte den Mund auf und schrie.
Weint er? fragte der Mann.

Nein, ich glaube, er lacht, antwortete die Frau.

Beinahe wie Kuchen, sagte der Mann und roch an dem Holz, wie Kuchen. Ganz süß.

Heute ist ja auch Weihnachten, sagte die Frau.

Ja, Weihnachten, brummte er, und vom Ofen her fiel eine Handvoll Licht auf das kleine schlafende Gesicht.

Quelle: Wolfgang Borchert: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Michael Töteberg. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 217-219.

Bildnachweis: Das Foto Russia Ukraine War – Day 41 von Manhhai ist lizensiert durch CC BY-ND20. Das Beitragsbild wurde farblich verändert.


Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte Die drei dunklen Könige aus dem Jahr 1946 zum Referenztext für das diesjährige Weihnachten auszuwählen, war nicht alternativlos. Natürlich nicht. Sollte es nicht doch wie in den letzten Jahren auch ein Gedicht sein, das Anlass bieten könnte für einige Gedanken zum Jahreswechsel? Einige lyrische Texte wurden gelesen, erwogen, die meisten schnell, letztlich zwei Texte zögernd zur Seite gelegt. Denn Borcherts Die drei dunklen Könige drängt sich bei den Gedanken an das diesjährige Weihnachten einfach auf.

Man muss gar nicht lange erläutern, dass die geschilderte Szene an dem Ort spielen könnte, der auf dem Beitragsbild zu sehen ist. In Borodjanka, einem Ort, nordwestlich von Kiew. Einer der vielen Ort, von denen man vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nie etwas gehört hat, bei deren Aussprache man sich schwer tat und die jetzt viel leichter über die Lippen gehen. Weil sie mit einem barbarischen Krieg und mit für uns in der Ferne kaum vorstellbarer Zerstörung überzogen wurden. Seit dem 24. Februar 2022 ist sichtbar geworden, dass die Barbarei nach Europa zurückgekehrt ist – lange vor diesem Datum.

In diesen Tagen werden wir Szenen wie die hier erzählte erleben, wenn auch ohne Berichterstattung, ohne Zeugen. Aber bei aller Versehrtheit, bei allen noch so furchtbaren inneren und äußeren Verletzungen fast aller Anwesenden obsiegt am Ende beim Erzähler und mit ihm beim Leser doch der Blick auf das Kind. So markiert die Kurzgeschichte die extreme Spannung nicht nur zwischen Hell und Dunkel, sondern auch zwischen Aussichtslosigkeit und Hoffnung. Man weiß am Ende nicht, wo man sich verorten soll. Aber anders als die Auswahl dieses ergreifenden Textes ist die Hinwendung zum Bild des lachenden Kindes im Licht wohl doch alternativlos.

Ich wünsche allen trotz allem eine schöne Weihnachtszeit und für das Jahr 2023 alles erdenklich Gute!

Mein besonderer Dank gilt all jenen, die trotz der geringen Angebote im vergangenen Jahr immer wieder hier im Blog vorbeigeschaut haben. Er kam wie manch anderes auch im beinahe vergangenen Jahr zu kurz. Das soll sich im nächsten Jahr wieder ändern.