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Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben

Ein merkwürdiger Romantitel. Er spricht jemanden direkt an, ohne dass man wissen könnte, wen. Vielleicht sogar den Leser selbst? Er fordert auf, ohne zu sagen, wozu. Zum Zuhören? Zum Erzählen? Zum Eingreifen? Zum Hintersichlassen? Gewiss ist nur, dass es, was auch immer, schnell gehen soll.

Dabei nimmt der Titel ein wesentliches erzählerisches Merkmal des Romans vorweg, nämlich die durchgängig bleibende Perspektive eines Erzählers auf ein Du. Das ist eine in der Literatur immer noch seltene, weil auch den Leser zunächst irritierende Konstruktion. Denn betrachtet man sie genauer, so erzählt ein Erzähler einer weiteren Erzählfigur ihre Geschichte. Das kann von ihr jedoch durchaus verschieden wahrgenommen werden. Auf den ersten Blick vielleicht sogar als Affront, behauptet der Erzähler doch durch die dauernde direkte Anrede seiner Figur, dass er über etwas verfüge, was ihr so ohne weiteres offensichtlich nicht präsent oder bewusst sei. Man stelle sich vor: Jemand käme daher und erzählte mir mein Leben! Eine Anmaßung!? Oder doch das Gegenteil: eine Erleichterung. Jemand entlastet mich vom Aussprechen dessen, was ausgesprochen sein will, das ich selbst aber nicht aussprechen kann. Der Erzähler macht mich zur Figur meiner Geschichte und weist auf sie. Ich kann mir also selbst distanziert beim Du-Sein zuschauen.

So hier. Das Du in Schnell, dein Leben ist eine Figur, die das offensichtlich autobiographische Erzählen vom Ich-Sagen befreit. Es entlastet dieses Du, die Hauptfigur Louise, in einer Art und Weise, die erzählerisch den Leser überhaupt nicht stört, ihm nie fremd vorkommt, sondern im Gegenteil die Erzählfigur ganz deutlich hervortreten lässt. Ob ein solcher Effekt auch noch wirksam ist, wenn man nur Auszüge kennt, lässt sich nur schwer beurteilen, hat man den Roman im Ganzen und zügig gelesen. Jedenfalls konnten die Juroren beim diesjährigen Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb recht wenig mit dem Roman anfangen. Liest man das Protokoll ihrer Diskussion, so gewinnt man den Eindruck, sie agierten zwischen Gelangweiltsein und Hilflosigkeit. Nun denn, wer dem Gerede eines Frühstückseis literarische Ambitioniertheit attestiert, wird so reagieren. Es sei ihm auch zugestanden, aber dem Roman von Sylvie Schenk wird er damit nicht gerecht.

Als kleines Kind der fünfziger Jahre weißt du von deiner Minderwertigkeit und möchtest lieber ein Junge sein. Der Wunsch bewirkt, dass du nie zum knallharten Feminismus konvertieren wirst.

So beginnt der Roman, die mittlerweile weit entfernte Kindheit und das Heute mit zwei einfachen Sätzen miteinander verbindend. Beginnt also mit dem Bewusstsein und der Erfahrung einer Zurücksetzung, die einzig durch den Umstand bestimmt ist, ein Mädchen zu sein. Der Roman selbst erzählt nun, wie sich Louise zunehmend aus dieser Zurücksetzung befreit. Die 34, in der Regel nur wenige Seiten umfassenden Kapitel erfassen in Schlaglichtern ein Leben, das man vom Ende her als gelingend bezeichnen darf, ohne die Verwerfungen und Verluste aus dem Blick zu verlieren. Schon auf den ersten Seiten wird das Einerseits – Andererseits der Lebenszusammenhänge deutlich. Da erlebt Louise eine Mutter, deren eigene Herkunft im Ungewissen bleibt und verschwiegen wird, in der Rolle der Ehefrau, die von ihrem Mann, einem Zahnarzt, vollkommen abhängig ist und Tag für Tag um das Haushaltsgeld bitten muss, das ihr dann ausgehändigt wird. Der Tochter aber wird über die Schulbildung und den Lycée-Abschluss, den man ihr seitens der Familie ermöglicht, der Zugang zum akademischen Studium eröffnet, das für ihren Prozess der Emanzipation einschneidend und wesentlich sein wird. Die in der Abgeschiedenheit der französischen Alpen durch Konvention und Katholizismus geprägten autoritären Strukturen stellt das Mädchen früh in Frage, aber nicht indem Louise dagegen offen opponiert, sondern in dem sie schreibt. Schreiben wird für sie sehr früh zur Möglichkeit, ihre Wirklichkeit hinter der Oberfläche zu erfassen, und das erst recht, nachdem sie – im übrigen wie die Autoren selbst – in Lyon ihr Studium für Latein, Griechisch und Französisch beginnt.

Eher schüchtern und vorsichtig lebt sie sich ein in die deutlich freiere Studentenwelt, aber nie bricht Louise mit ihrer Herkunft. Ihr ist nicht an der Fundamentalabwehr der Lebensverhältnisse ihrer Eltern gelegen. So ist es auch stimmig, dass sie das Gebaren der 68er-Bewegung, die in den Anfängen in ihre eigene Studienzeit fällt, mit innerer DIstanz wahrnimmt. Ihr bleibt immer daran gelegen, den Ausgleich zu wahren zwischen Herkunft und eigenem Lebenszuschnitt.

Und das ist alles andere als leicht. Denn die Bürden der Vergangenheit wiegen schwer, und zwar quer durch die Generationen. In ihrem studentischen Freundeskreis lernt sie Henri kennen, dessen Eltern von den Nazis ernordet wurden und der deshalb zeitlebens sein Misstrauen gegen alle Deutschen nicht überwinden kann. Mit ihm macht sie ihren ersten sexuellen Erfahrungen, verliebt sich aber schließlich in Johann, einen Austauschsstudenten aus Deutschland. Das aber belastet nicht nur ihre Freundschaft zu Henri, sondern auch zu ihren Eltern. Ihr Vater zeigt sich empört und fassungslos: Ein Deutscher! Es ist aber die Beharrlichkeit und Konsequenz, mit der Louise und Johann an ihrer Liebe festhalten, die die Widerstände überwindet. Sie heiraten und bleiben in Deutschland.

Hier nun erlebt Louise die nächste stille Zurückweisung. Sie bleibt für ihre Mitwelt „die Französin“; Deutsch, so gut sie die Sprache auch lernt, ist für sie die Sprache der Literatur, „Fiktionssprache“, wie sie sie selbst nennt. Doch auch in die neue Umgebung wächst sie hinein, nicht zuletzt auch weil sich zu ihren Schwiegereltern ein sehr herzliches Verhältnis entwickelt.

Auch das wiederum hat aber seine Schattenseiten, insbesondere als Johann zunehmend kränkelt, sich mit Atemnot und Angstattacken konfrontiert sieht. Deren Ursachen bleiben lange Zeit im Dunkeln, deuten aber auf Hintergründe, die etwas mit dem Verhältnis zum Vater zu tun haben und bis nach dessen Tod verdrängt und beschwiegen werden. Erst danach gelingt es Johann zu reden, der im letzten Teil des Romans darüber mehr und mehr zur zweiten Hauptfigur wird.

Sylvie Schenks Roman lebt von seinen prägnant verdichteten Bildern, die die Autorin zu entwerfen versteht in einer Sprache, die keine Scheu hat vor metaphorischen Aufladungen und lyrischen Wendungen, ohne sie zugleich überzustrapazieren. So gelingt es ihr, in diesem kurzen, nur 160 Seiten umfassenden Roman, die Schichten und Sedimente, die das Leben der Hauptfigur Louise bilden, deutlich zu machen: Sie fängt den Konflikt mit den Eltern ein, deren Leben sich aus anderen Erfahrungen speist, erzählt den Generationenroman der heute um die 70-Jährigen, zeigt das behutsame und auf Ausgleich bedachte Autonomiestreben einer Frau und wirft einen Blick auf eine Zeitspanne, in der die deutsch-französische Annäherung alles andere als selbstverständlich war. Das tut sie ohne belehrende Didaxe, aber doch mit Gespür für das Typische der Zeit, das im dem Leben Louises und ihres Mannes in Erscheinung tritt. Wem das, wie in Klagenfurt zu hören war, zu viel „Geschichtsbuch“ ist, hat Wesentliches nicht erfasst, mehr noch, und das ist schade: Er vergibt sich etwas.


Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben. Roman. – München: Carl Hanser Verlag 2016 (€ 16.-)

Nachgelesenes

Eine  einfühlsame Besprechung von Marina Büttner, die den Blog literaturleuchtet betreibt, findet sich auf Fixpoetry.

Die Autorin

Es wird nicht die Regel werden, Anmerkungen zur Autorin oder zum Autor anzuschließen. Hier aber ist es mir durchaus ein Anliegen, zum einen weil Sylvie Schenk eine weithin noch unbekannte Schriftstellerin ist, zum anderen weil es mir Gelegenheit gibt, hinzuweisen auf eine Einrichtung, die sie selbst federführend initiiert hat und mit großer Resonanz immer noch wesentlich mitgestaltet.

Sylvie Schenk hat in diversen Interviews keinen Hehl daraus gemacht, dass ihr Roman Schnell, dein Leben stark biographisch verankert ist, ohne freilich im eigenen Leben aufzugehen.Deshalb aber braucht man auf zentrale Lebensstationen der 1944 in Chambéry geborenen und heute abwechselnd in einer Kleinstadt bei Aachen und in einem Dorf in den französischen Alpen lebenden Autorin nicht einzugehen.

Der Roman ist jedoch, wie ab und an zu lesen war, mitnichten ihre Debutroman. Mitte der siebziger Jahre begann Sylvie Schenk Gedichte zu veröffentlichen, allerdings noch auf Französisch und unter ihrem Mädchennamen Sylvie Gonsolin. Erst Anfang der 90er Jahre publizierte sie Texte auf Deutsch, darunter 1995 auch ihren ersten Roman. Seit Anfang der 2000er-Jahre veröffentlicht sie unter ihrem Namen Sylvie Schenk. Schnell, dein Leben ist ihr mittlerweile achter Roman. Während jedoch alle vorherigen in Kleinverlagen erschienen, hat nun erstmals der renommierte Hanser Verlag das Buch verlegt.

Ihr persönlicher und engagierter Bezug zur Literatur, ihre Verwurzelung in der Region, aber auch ihre langjährige Tätigkeit als Schulbuchautorin waren wohl wesentliche Beweggründe, das Projekt Euregio liest zu initiieren, das sich der Förderung des kulturellen und insbesondere literarischen Austauschs im euregionalen Raum der Städteregion Aachen, Belgiens und der Niederlande zuwendet. Das bekannteste Einzelprojekt ist dabei der seit 2002 alljährlich stattfindende Euregio-Schüler-Literaturpreis, bei dem Schülerinnen und Schüler aus den Regionen ein zeitgenössisches Werk auswählen und mit dem Preis beehren. Preisträger waren bisher unter anderem Marten ‚tHart, Hermann Koch, Milena Michiko Flašar und Joachim Meyerhoff.