Ein Hang dazu, oder ist es ein Bedürfnis, vorne anzufangen. Neu erschienen ist kürzlich non Mathijs Deen „Die Lotsin“. Die Buchbesprechung in einer Tageszeitung, machte Lust, diesen Roman zu lesen, den vierten aus einer Reihe des Autors, die ich bisher eher am Rande wahrgenommen hatte. Warum aber dann nicht gleich mit dem ersten Roman beginnen, in dessen Mittelpunkt die Ermittlerfigur Liewe Cupido steht? Oft interessiert die Entwicklung einer solchen Figur mindestens genauso wie der jeweilige Kriminalfall selbst. Also anfangen mit „Der Holländer“.
Liewe Cupido ist dieser titelgebende „Holländer“. Von den Kolleginnen und Kollegen auf niederländischer wie auf deutscher Seite wird er so genannt, und offenbar wissen dann alle gleich, wer gemeint ist. Dabei steht er gar nicht mal so sehr im Mittelpunkt. Es vergeht sogar eine ganze Zeit, bis er in die Handlung eingeführt wird. Ein Einzelgänger, Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters, jemand, der lange auf Texel gelebt hat, der nun aber bei der Bundespolizei See in Cuxhaven arbeitet. Jemand, der offenbar ungern nach Hause fährt und augenscheinlich lieber in Pensionen und Hotels der Region übernachtet, in der er ermittelt. Jemand, der nicht viel spricht, aber sehr gut zuhören kann.
Sein erster Fall – genau genommen der erste seiner Fälle, der uns erzählt wird – führt ihn an die Emsmündung und ans Wattenmeer an beiden Seiten der deutsch-niederländischen Grenze. Dort entdeckt ein niederländisches Patrouillenboot auf einer Sandbank eine Leiche. Der Fundort – und man mag es kaum glauben, dass es dergleichen tatsächlich immer noch gibt – befindet sich in einem Grenzgebiet, das zwischen den Niederlanden und Deutsch territorial umstritten ist. Ein Anachronismus also, den Mathijs Deen mit Humor und Ironie, punktuell auch mit Spott zu erzählen versteht. Es entsteht ein Streit um Zuständigkeiten, über dessen Absurdität man schmunzeln oder auch nur verständnislos den Kopf schütteln kann.
Der Tote ist ein passionierter Wandwanderer, viel mehr ein Hochalpinist im Küstengewässern als ein naturverbundener Spaziergänger im Wattenmeer. Umgekommen ist er aus zunächst ungeklärten Umständen beim Versuch, von Manslagt aus, einem Dorf im ostfriesischen Krummhörn, gut 20 Kilomenter nordwestlich von Emden, zu Fuß durch das Wattenmeer die Insel Borkum zu erreichen. Mit zwei Wegbegleitern war die Expedition akribisch geplant. Sie ist nur unter ganz bestimmten Umständen möglich, die ganz selten auftreten, mit dem Tidenhub und Strömungsverhältnissen zu tun haben und nur ein enges Zeitfenster zulassen. Das ist Hochleistungssport, der eine Menge Fach- und Naturkenntnis voraussetzt, nichts für herkömmliche Wattenmeertouristen. Durchgeführt wird die Expedition aber nur zu zweit, da sich der Dritte im Bunde in England befindet, als sich die Gelegenheit zu dieser Tour ergibt. Dieser Zweite, der an der Querung des Wattenmeers teilnahm, konnte sich schließlich nur knapp an den Strand von Borkum retten.
Der aufgefundene Tote hat eine auffallende Kopfwunde, von der nicht klar ist, woher sie rührt. Vor allem aber wird er an einer Stelle gefunden, die die Strömungsverhältnisse in dem Zeitraum, indem sich der Vorfall ereignete, überhaupt nicht zugelassen hätten es sei denn, dass doch irgendwer da am Werk gewesen ist. Letztlich werden sich die Ermittlungen genau um diese Ungereimtheiten drehen.
Mehr soll, mehr muss aber auch gar nicht verraten werden. Das Bewundernswerte dieses Romans liegt nicht in der Plotkonstruktion und dessen Auflösung. Da gibt es sicherlich vermeintlich spannendere und raffinierter gebaute Vertreter des Genres. Das hohe Lesevergnügen speist sich vor allem aus der Figurengestaltung, der Landschaftsdarstellung und der durch diese beiden Elemente erzeugten Atmosphäre des Romans. Mathijs Deen gelingt es, einen ganz ruhigen Erzählfluss in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten. Dieser Kriminalroman ist geradezu ein Anti-Thriller. Die einzige Actionszene, wenn man sie überhaupt so nennen kann, schildert die absichtlich herbeigeführte Kollision zweier Schiffe. Das hat mit dem eigentlichen Fall aber bestenfalls indirekt etwas zu tun und ist Folge dieses Territorialgerangels an den Küsten beiderseits des Dollart und der Emsmündung, die so der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Je weiter der Roman voranschreitet, desto präsenter aber wird die Figur des Liewe Cupido. Man folgt ihm lesend gerne in seiner zurückhaltenden und gradlinigen Art der Ermittlung, der alles Aufdringliche oder gar Rabiate fremd ist. Er ist ein Menschenfreund, ohne seine Menschenfreundlichkeit wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Will man seiner Fähigkeit, genau zuhören zu können, gerecht werden und folgen, muss man genau lesen und sich bemühen, die Zwischentöne des Gesagten und die Leerstellen als eine Ahnung des Verschwiegenen wahrzunehmen. Belohnt wird man durch eine Spannung, die sich gerade nicht an der Oberfläche der Handlung abspielt. Die eindrucksvollen Schilderungen des Wattenmeers und der westfriesischen Küstenlandschaft tun ihr Übriges. Nicht nur bei jenen, die die Gegend kennen, entwickeln sich Vorstellungsräume, die die enge Verbundenheit von Mensch und Wattenmeer deutlich werden lassen.
Schließlich gibt es eine Menge von Anknüpfungspunkten für Folgeromane. Da ist nicht nur die Figur des Liewe Cupido, der auf eine nahbare Art fremd bleibt und über dessen Lebenszusammenhänge man mehr erfahren möchte. Es wird ein Assistent aufgebaut, Xander Rimpahl, auf dessen Rolle in den weiteren Romanen man gespannt sein darf. Und schließlich gibt es einen Hund, der irgendwann in Cupidos Auto springt und nicht mehr weggehen will.
Viel Grund zur Vorfreude also auf die Lektüre von „Der Taucher“.
Matthijs Deen: Der Holländer. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. – Hamburg: Mareverlag 2022.