Leipzig als Lesestadt – Hundemögliches. Martin Walsers Notate

Gleich zwei Bücher mit Texten Martin Walsers legt die feine Edition Isele in diesem Jahr auf. Schmale Bände, fast schon Büchlein. Der eine mit Fotos von Isolde Ohlbaum. Sie zeigen Martin Walser mit Hund und haben beinahe schon etwas Portraithaftes. Im anderen werden seine handschriftlichen Aufzeichnungen, einschließlich der Streichungen und Korrekturen, und die Druckfassung synoptisch auf gegenüberliegenden Seiten abgedruckt und mit einem kenntnisreichen Nachwort von Jörg Magenau herausgegeben. Schöne Bücher!

Zweifler mögen sich fragen: Da wird aus einem Zeitungsartikel aus der Neuen Zürcher Zeitung ein Buch? Und aus Notaten auf der Rückseite von Typoskriptseiten zu „Angstblüte“ ein zweites, Notate, die kaum zwei Druckspalten in der schon besagten NZZ füllen würden? Übrigens sei das Nachwort deutlich länger als der Walser-Text. Zudem könne man alles auch in den vorliegenden Tagebüchern Martin Walsers nachlesen, zum Teil sogar detaillierter und ausführlicher. Wer so fragt, richtet sein Augenmerk aber nicht auf die Texte, sondern auf die verlegerischen Überlegungen und Risiken. Freilich, da werden keine Bestseller aufgelegt. Aber umso verdienstvoller ist das Engagement des Verlags, der mit den beiden Büchern eine mittlerweile stattliche Reihe von kleineren Schriften Walsers ergänzt, die seit Jahren in der Edition Isele eine Heimat gefunden haben.

Literarisch artifizielle Kleinode sind sie nicht; das würde auch niemand ernsthaft behaupten. Aber sie zeigen doch so etwas wie den „ganzen“ Walser. Er selbst hätte mit dem Adjektiv „ganz“, bezogen auf seine Person, wahrscheinlich nichts anfangen können. Man hat gleich typische Walser-Gesten vor Augen, mit denen er eine solche Bezeichnung abwehren würde. Man sieht ihn förmlich in seinem Sessel oder auf seinem Stuhl unruhig hin und her rutschen. Entgegnen würde er wohl darauf, dass die Mangelkompensation seinen Schreibimpuls ausmache. Man sei niemals „ganz“. Aber vielleicht könnte er folgen, wenn man sich darauf verständigte, dass das Unvollkommene gerade das Ganze sei.

Walsers Deutschlandbild entspricht diesem Gedanken sicherlich. Das erfährt man in seinen Notaten zu seinen Leipzig-Aufenthalten in die Die Stadt der Städte. Leipzig – Lesestadt Nummer 1. Wann genau die Aufzeichnungen entstanden sind, ist weder einer editorischen Notiz, noch dem ansonsten kenntnisreichen und informativen Nachwort Jörg Magenaus zu entnehmen. Allerdings verweist Walser in seinen Aufzeichnungen auf eine Lesereise nach Leipzig, die 2007 stattgefunden hat. Die Entstehungszeit wäre also post festum. Hinweise auf 2009 als Entstehungsjahr sind jedoch nicht überprüfbar. Auch der Anlass für die Notizen bleiben im Unklaren. Dass es sich um Tagebuchaufzeichnungen handele, ist nicht völlig ausgeschlossen. Notiert wurden sie allerdings, wie schon erwähnt, auf der Rückseite von Typoskriptseiten zu seinem Roman Angstblüte (2006). Tagebuch führte Walser außerdem nicht auf losen Blättern, sondern in Kladden. Und warum sollte er auch ein zweites Mal einen Tagebucheintrag machen? Zumindest von der ersten Lesereise wissen wir, dass sie detailliert im Tagebuch von 1981 protokolliert ist (Martin Walser: Schreiben und Leben. Tagebücher 1979 – 1981. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014).

Gerade weil die Verortung nicht leicht fällt, rücken bestimmte Aspekte des Textes aber auch schärfer in den Vordergrund. Wir erfahren in den Aufzeichnungen kaum etwas über die politischen Rahmenbedingungen seiner Lesereisen nach Leipzig, insbesondere zu DDR-Zeiten. Festgehalten wird, wie im Tagebuch von 1981, dass er sich bei seiner ersten Lesereise gegenüber „einem Mächtigen“ für den Schriftsteller Gert Neumann eingesetzt habe, der wegen seines Romans „Elf Uhr“ und seiner politischen Haltung unter Zensur stand und massiven staatlichen Repressionen ausgesetzt war. Walsers Engagement war zumindest an dieser Stelle vergeblich. Dass dieser „Mächtige“ der SED-Funktionär Dietmar Keller war, erfahren wir aber nur aus seinen Tagebüchern, in den vorliegenden Notaten findet sich hingegen kein Klarname.

Walser geht es in seinen Notaten offensichtlich um etwas anderes: um Leipzig als „Lesestadt“ und damit um das Verhältnis zwischen Autor und Leserschaft, die im Kontext der Lesereise natürlich immer zugleich Zuhörerschaft ist. Walsers Lesungen waren durchinszenierte Ereignisse. Jeder, der einmal daran teilgenommen hat, wird das bestätigen können. Insofern kann man seine Bemerkung, eine Lesung sei „zuerst ein Porträt des Veranstalters und des Publikums und erst in zweiter Linie die Wirkung dessen, der da liest“, der rhetorischen Kategorie der Bescheidenheitstopoi zuordnen. Walsers ist sich bei seinen Lesungen seiner Wirkungsabsichten sehr wohl bewusst.

Aber er versteht sie nicht als Einbahnstraße vom Lesenden zum Publikum. Ihm geht es um mehr, ihm geht es um Resonanz. Walser spricht in diesem Zusammenhang von „Saalerlebnissen“, die in seiner subjektiven Erfahrung Leipzig zur „Lese-Stadt Nummer 1“ haben werden lassen. Vergleichbare Erfahrungen hält er für München und Bonn fest, zur vergleichenden Abgrenzung führt er Ulm, Duisburg und Aachen an. Nebenher bemerkt: deutsch-deutsche Unterschiede, die bedingt sein könnten durch die Unterschiedlichkeit der Gesellschaftssysteme, erwähnt er nicht.

Worin nun aber liegt das besondere „Saalerlebnis“?

Im [sic!] Leipzig entdecken die Zuhörer Sätze, die man selber noch gar nicht als besondere Sätze entdeckt hat.

Und die Leipziger verfügen über ein Maß an spontaner Ausdruckskraft, das den Vorlesenden in die Illusion wiegt, er werde von der Zustimmung der Zuhörer getragen.
Man möge mir glauben, dass das bisher so war.

Zustimmungssehnsucht charakterisiert nicht nur Walsers literarische Protagonisten, und zwar vom Früh- bis zum Alterswerk, sondern auch den Autor selbst. Es auf die narzisstische Schwundstufe der Selbstverliebtheit zu reduzieren, wäre ein Missverständnis und würde ihm Unrecht tun. Es ist vielmehr eine Sehnsucht nach Gemeinschaftlichem, das sich in Sprache manifestiert, in Sätzen, die im Austausch zu besonderen Sätzen werden. Aus dieser Wechselseitigkeit zwischen Autor und Publikum entsteht Resonanz, und um die geht es Walser. Aus ihrem Erleben speist sich sein Begriff von ‚Gefühl‘, der, in unterschiedlichen Kontexten, vor allem aber im Zusammenhang der Debatten um Walsers Deutschlandbild, immer wieder für Irritationen, aber auch für Anfeindungen gesorgt hat.

Jörg Magenaus ausführliches Nachwort ordnet die Lesereisen nach Leipzig in die jeweiligen politischen Zusammenhänge ein, die sich über die Jahrzehnte bekanntlich erheblich veränderten, und erläutert sie. Das ist, wie schon erwähnt, kenntnisreich, das ist erhellend. Aber mit Blick auf den hier aufgelegten Text geht es doch an dessen Perspektive auf die erinnerten Ereignisse, vielleicht darf man sogar sagen: an dessen Intention vorbei.

Das Resonanzgefühl verbindet in tieferen Kohärenzschichten Die Stadt der Städte mit seinem Aufsatz Das Hundemögliche, der erstmals mit Datum vom 8./9. Januar 2005 in der Wochenendausgabe der NZZ erschienen war. Diese Perspektive schlägt Walser gleich im ersten Satz an:

Nach einiger Erfahrung mit Hunden halte ich es für möglich, dass wir von Tieren so viel lernen können wie sie von uns.

Nun ist seine empirische Grundlage für diese Aussage nicht sehr breit; sie beschränkt sich auf die Beobachtung dreier seiner Hunde, die ihn in unterschiedlichen Etappen seines Lebens begleitet haben. Aber sie reicht in die Tiefe. Dazu gehört zunächst ein sprachliches Ausloten, welche Bezeichnung für die Hunde als Wesen angemessen sei. Sie als ‚hündisch‘ zu bezeichnen, erscheint ihm „unmöglich“. Zu sehr schwingt ihm offenbar Abwertendes mit. Mit dem Weglassen der Tremazeichen aber wird der autonome Existenzkern des Tieres freigelegt. So kurz Walsers Einlassungen dazu sind, so sehr leuchtet es ein, wenn er seine Vierbeiner als Vertreter des „Hundischen“ vorstellt und sie in ihrer spezifischen Form des Seins nobilitiert.

Der eine oder andere Hundebesitzer wird sicherlich den Kopf schütteln, wenn er liest, was den Hunden gestattet war im Hause Walser beim Ausleben ihrer Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale. Er erwähnt derlei Befremden bei Besuch, der sich den Annäherungen des jeweiligen Hundes ausgesetzt sah, auch, von Verhaltenskorrekturen der Hunde spricht er aber nicht. Was ihn im Beobachten ihrer Lebensfreude und im Zusammenleben mit dem jeweiligen Hund fasziniert, ist ihre Authentizität

an der Schwelle zur Epoche des aufrechten Gangs […]! Ich klatsche nicht, ich gratuliere nicht, ich zeige nur, dass auch ich in diesem Augenblick glücklich bin.

Von hier aus wird auch der vollständige Titel des Aufsatzes verständlich: Das Hundemögliche oder Die Entstehung der Zukunft. Man muss das utopische Potenzial, das Walser in das Wesen der Hunde hineinlegt, nicht teilen. Aber man kann verstehen, dass sich in der Mensch-Hund-Beziehung für den Autor eine Resonanz entfaltet, die Möglichkeitsräume auch für das eigene Dasein eröffnet. Anders, aber dennoch nicht ohne Schnittmenge zu Walsers Lesereiseerfahrungen in Leipzig. So unterschiedlich also die Sujets der beiden Texte zu sein scheinen, so sehr hängen sie in der Wahrnehmung von Wirklichkeit und deren Resonanzmöglichkeiten doch zusammen.

Man müsste vielleicht vor diesem Hintergrund Martin Walsers Hoffnungsvorstellungen noch einmal genauer auf ihren Gehalt hin untersuchen. Vielleicht.

Martin Walser: Die Stadt der Städte. Leipzig – Lesestadt Nummer 1. Mit einem Nachwort von Jörg Magenau. – Eggingen: Edition Isele 2025.
Martin Walser: Das Hundemögliche oder Die Entstehung der Zukunft. Mit Fotografien von Isolde Ohlbaum und einer Nachbemerkung von Peter Blickle. – Eggingen: Edition Isele 2025.

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