Cédric Sapin-Defour: Sein Geruch nach Regen

Lieber Cédric Sapin-Defour,

viele Gedanken nehmen, wem sage ich das, erst richtig Gestalt an bei Spaziergängen mit dem Hund. Das war bei mir schon immer so, zumindest, so lange ich einen Hund habe, also seit Jahrzehnten. Die Qualität dieser Gedanken möchte ich gar nicht beurteilen, ich kann es wahrscheinlich auch gar nicht. Ich bin mir jedoch sicher, es ist immer wieder auch reichlich Unsinn dabei; wie könnte es anders sein. Darum geht es auch nicht. Es ist so vieles, was beim Gehen mit dem Hund in diesen Gedanken zusammenläuft. Da ist der Rhythmus der eigenen Schritte, der ein anderer ist, ob man auf geteertem Weg geht, auf Feldwegen oder im Wald. Der stockt, wenn man irgendetwas, manchmal eben auch dem Hund, ausweichen muss. Der sich vermischt mit seinem Schritt, meistens im Trab, oder im Galopp, wenn er von hinten kommend an mir vorbeiläuft oder aber zurückkommt. Da ist sein rhythmisches Hecheln, abhängig von der Art, wie er gerade läuft. All das vermischt sich mit den Geräuschen der Umgebung, dem Wind, dem Knacken in den Bäumen, den Vogelstimmen, dem Rascheln am Boden, zumindest im Wald. Es entsteht – bei Stadtgeräuschen sicher diffuser und unschärfer – eine Gesamtatmosphäre, in der Gedanken sich ausbreiten können. In alle Richtungen, manchmal nicht einmal sprachlich, um dann doch irgendwann wieder zurückzukehren und sich zu fokussieren. Nach-denken, wie es im Deutschen heißt, kann man sich dabei sehr konkret vorstellen: einem sich bildenden Gedanken folgen, ihm nachgehen. Ohne ihn, den Hund, wäre da eine Lücke im Ganzen, von der ich mir nicht vorstellen kann, wie sie anders ausgefüllt werden könnte als eben mit ihm, mehr noch durch ihn, den Hund.

Wie schreiben Sie selbst:

Es gibt keine köstlichere Entblößung, als sich nur im Schritt jener Begleitung zu wissen, deren Zauber ich noch immer nicht entschlüsselt habe: Der andere hilft uns, den Moment der Einsamkeit, dessen Teilbarkeit ich erst spät entdecke, weiter auszukosten. Es gibt nichts anderes zu tun, als zu gehen […]. Ich wünsche jedem, diese Regionen der Ablenkung erkunden zu dürfen: Wir erheischen die fliehende Zeit, die Ideen ordnen sich wie von selbst, wir finden ein paar Antworten auf die trickreichen Fragen, die das Leben mit sich bringt […].

Es war also während eines solchen Spaziergangs, als der Gedanke zunächst als Frage auftauchte, wie ich hier in meinem Blog über Ihr Buch sprechen könnte, das ich gerade dabei war zu Ende zu lesen. Ich wusste zunächst nur zweierlei: Ich wollte auf jeden Fall darüber schreiben, zum einen. Zum anderen: eine konventionelle Besprechung im Sinne einer Rezension oder einer Kritik konnte es nicht sein. Einem Buch wie Sein Geruch nach Regen mit reichlich analytischem Vokabular und in einem der Literaturkritik eigenen Formate zu begegnen, schien mir von Beginn an unangemessen. Ich hätte aber nicht gleich sagen können, warum? Ihre Hommage an Ubac, diesem wunderbaren Berner Sennenhund mit dem ausgeprägten Charakterkopf, ich gehe einmal davon aus, dass es sich bei dem Foto auf dem Cover der deutschen, aber auch der französischen Ausgabe um Ihren Hund, um Ubac handelt, denn sie werden selbst als Autor des Umschlagfotos angegeben – Sie entschuldigen, die Gedanken wandern wieder – Ihre Hommage an Ubac also zeigt immer wieder einen analytischen Tiefenblick, und zwar nicht nur auf den Hund, sondern, und das vor allem, auf den Menschen in Begleitung dieses Hundes, auf den Ich-Erzähler, vielleicht kann man sagen: auf Sie. Das liest sich nicht nur mit identifikatorischem Vergnügen, sondern auch mit hohem Einsichtspotenzial in das eigene Selbst. Genau deshalb wird es doch möglich sein, solcherart Leseeindrücke und Selbsterfahrungsgewinne zu überführen in einen eigenen Text, der in dem, was ihn ausmachen sollte, dann allemal analytisches Potenzial entwickeln könnte.

Aber würde er der Mensch-Hund-Beziehung, die Sie über ein dreizehn Jahre dauerndes Hundeleben beobachten, beschreiben und reflektieren, in der gewählten Form der eigenen Darstellung gerecht werden können? Müsste es nicht eine Form sein, die das Reflexive in einer Weise mit der Empfindung verbindet, die dem Buch näher kommt als der nüchterne Blick, so angetan er vom Gelesenen auch sein mag? Eine Form, die trotzdem noch in dieses zugleich öffentliche Format des Blogs hineinpasst, der aber nicht so unerträglich anempfindend ist wie die meisten, na ja, zumindest zu viele Buchpräsentationen auf Instagram oder TikTok?

Vor einigen Jahren habe ich die Briefform schon einmal als Blogbeitrag genutzt. Ich hatte mich mächtig geärgert über den Feuilletonbeitrag einer renommierten Literaturkritikerin, der mir anmaßend und ungerecht erschien. Darauf wollte ich antworten und tat das in einem öffentlichen Brief. Was diesen Artikel von damals verbindet mit dem, was ich hier versuche, ist der affektive Impuls. Wenn der Zorn auch gänzlich anders gelagert ist als die Anrührung und die intuitive Einsicht, ja, so lasse sich eine gelingende Mensch-Hund-Beziehung beschreiben und fassen, so erlaubt doch die Form des Briefes, den Affekt, der sich nicht wegleugnen lässt, hineinzunehmen ins Schreiben über Ihr Buch. Deshalb erlaube ich mir die unmittelbare Anrede an den Autor, auch wenn ich mir der vielen Hürden, ja der Unwahrscheinlichkeit bewusst bin, Sie auf diesem Weg auch zu erreichen.

Sie seien, so lässt sich ohne Mühen herausfinden, selbst Alpinist und Autor zahlreicher Bücher über das Bergsteigen. Ich kenne keines dieser Bücher, das muss ich gestehen. Eine zugegebenermaßen flüchtige Recherche ergab zudem keine deutschsprachigen Treffer. Ich erwähne diesen Zusammenhang, weil er mich ein Stück weit verwirrt. Denn der Ich-Erzähler in Sein Geruch nach Regen ist Lehrer. Es gibt mehrere Szenen, die im Sportunterricht an einer Schule spielen. Mag sein, dass ich doch allzu naiv und vorbehaltlos der Gleichsetzung von Autoren- und Erzähler-Ich aufgesessen bin. Ich werde diese Irritation bei Gelegenheit noch einmal versuchen aufzulösen. Aber sie ist auch nachrangig. Was Sie und Ihr Erzähler-Ich ganz offensichtlich miteinander verbindet, ist der Raum, in dem sie leben, die französischen Alpen. Ubac bewegt sich die allermeiste Zeit seines Hundelebens in einem besonders naturnahen Umfeld, und seine Sozialisation wäre sicherlich eine andere geworden, hätte er in einer Stadt aufwachsen müssen. Immer wieder greifen Sie auf, dass es Ihnen ein Anliegen ist, den Hund nicht zu sehr zu vermenschlichen. Das gelingt Ihnen, wie könnte man es als jemand mit doch vergleichbarem Anliegen und vergleichbarer Erfahrung anders erwarten, nur bedingt. Vermenschlichung beginnt ja nicht da, wo man dem Hund eine Mütze aufsetzt oder die Krallen lackiert. Das ist Tierwohlgefährdung. Vermenschlichung zeigt sich da, wo der Versuch unternommen wird, die Beziehung auf eine sprachliche Ebene zu bringen. Wir reden mit unseren Hunden.

Ich weiß nicht, warum wir uns damit abmühen, mit Hunden zu sprechen. Wahrscheinlich träumen wir alle heimlich davon, der erste Mensch auf Erden zu sein, dem der eigene Hund antwortet.

Zwei Sätze, die eigentlich alles sagen, was Ihr Buch über Ubac ausmacht. In ihnen artikuliert sich die Nähe zum Tier, aber immer auch noch ein Funken Distanz, oder vielleicht sollte man besser sagen: ein mitschwingendes Gespür vom Anderssein als das Tier. Funken springen nur zwischen Polen, die nah genug beieinander sind, aber sich zugleich nicht berühren. Deshalb stellt sich mir die Frage, ob „wir“ die sprachliche Kommunikation mit dem Hund wirklich wünschen (sollten) oder ob die Besonderheit der Beziehung nicht gerade in diesem Spalt zwischen den Polen manifest wird. Was macht sie aus, diese unbeschreibliche, genauer: nahezu unbeschreibliche Beziehung. „Nahezu“, weil Ihr Buch versucht, eine Antwort darauf zu geben, und zwar in einer Klarheit und gedanklichen wie auch emotionalen Tiefe, die ich so bisher anderswo noch nicht gelesen habe.

Besonders deutlich wird das für mich in einem gemeinsamen Moment mit Ubac auf einer Wanderung zum Roche Parstire, einem Berggipfel oberhalb der Roselend-Talsperre. (Sie sehen mir nach, dass ich Google Maps habe zurate ziehen müssen, um zu wissen, wo genau das ist.) Sie erzählen von einer Pause, die sie machen, um die Aussicht zu betrachten. Sie nehmen zwar an, dass Ubac die Aussicht gleichgültig sei, sitzen aber nebeneinander und betrachten „gemeinsam“ den Horizont. Sie sagen zu ihm: „Schau nur, wie schön das ist“, um sich stillschweigend gleich selbst zu maßregeln, weil sie es als Kind gehasst hätten, auf ästhetische Werturteile der Erwachsenen festgelegt zu werden. Diesen Gedanken korrigieren sie aber auch gleich wieder, weil es ihnen „dennoch“ scheint, „dass es nie völlig unangebracht ist, die Macht der Schönheit zu beschwören“.

Bitte verzeihen Sie, dass ich so detailliert aus Ihrem Buch zitiere, aber mir ist wichtig, deutlich zu machen, warum es mir so viel bedeutet. Denn über die ästhetisch geprägte Naturerfahrung – über Ihre, nicht über die Ubacs; da würde ich mich Ihnen anschließen wollen und annehmen, dass es sie nicht gibt, zumindest nicht auf unsere Art – kommen Sie zu dem, was die Mensch-Hund-Beziehung in ihrer Tiefe ausmacht. Ich zitiere zum letzten Mal, versprochen:

Es ist ein machtvoller, von einer weltlichen Spiritualität getragener Augenblick, die einzige verständliche Definition des Laizismus, wenn das Geistige und das Heilige nicht (mehr) dem Religiösen angehören.

Ich stolpere immer wieder über diesen Satz, der mir so zentral zu sein scheint, dass ich von ihm aus Ihr gesamtes Buch lese. Er bremst mich in meinem Lesefluss geradezu aus, weil ich ahne, was sie meinen, eine große Bereitschaft spüre, diese Meinung zu teilen, aber zugleich zögerlich bin. Vermutlich liegt es am Begriff „Laizismus“. Ich verbinde ihn mit der sehr strikten Trennung von Staat und Kirche bis hin zur Zurückdrängung kirchlicher Einflüsse auf das gesellschaftliche Leben. Insofern ist es ein politischer Begriff. Darüber hinaus weisen mir vertrauenswürdig erscheinende, deutschsprachige Quellen darauf hin, dass damit auch eine Beschränkung alles Religiösen auf den privaten Raum gemeint sein kann. Dann ist es eine eher soziologische Kategorie. Sie verlagern den Begriff hingegen ins eigene Selbst, machen ihn zu einer individuellen Erfahrung des Moments, des „Augenblicks“, der erfüllt ist von zwei, wie soll man sagen: Wahrnehmungsqualitäten zugleich, dem „Geistigen“ und dem „Heiligen“. Diese beiden Begriffe werden nicht näher erläutert, außer, dass sie nicht dem Religiösen angehören, zugleich aber von Spiritualität, „weltlicher Spiritualität“, ‚getragen‘ würden.

Ich frage mich, ob das, was sie als Empfindung des Moments schildern, eines Moments, der ja, wenn ich Sie richtig verstehe, nicht einmalig ist, sondern wiederholbar, für den die Rast am Roche Parstire exemplarisch ist für die Beziehung zwischen Ubac und Ihnen, für die Beziehung zwischen Mensch und Hund – ob nicht gerade das eine religiöse Erfahrung ist? Sie muss ja nicht angebunden sein an irgendeine Art von Gottesvorstellung, erst recht nicht an die der monotheistischen Religionen. Beim Nachdenken über Ihre Worte war ich erinnert an eine Formulierung des Philosophen Ernst Bloch, der das, was sie hier beschreiben, als ein „Transzendieren ohne Transzendenz“ bezeichnet hat, das Ausfüllen eines religiösen Raumes ohne einen Gott als Wesenheit. Wobei Bloch, das sei kurz ergänzt, dem Menschen Religiosität als existenzielles Bedürfnis zuschreibt.

Ihre Erfahrung überschreitet, anders als bei Bloch, die Individualebene. Sie machen sie abhängig vom Zusammensein mit dem Hund, und nur mit dem Hund. Sie ersetzt nicht – und auch das zeigen Ihre Schilderungen immer wieder sehr deutlich – die Liebe zwischen zwei Menschen, aber sie ist selbst auch nicht zu ersetzen. Eine Unio mystica, eben ohne einen Gott, sondern gemeinsam mit Hund auf Augenhöhe.

Umso schwerer, wenn der Hund stirbt. Auch wenn Ubac angesichts der Rasse und der Größe des Hundes ein erstaunliches Alter erreicht hat, sein Tod also erwartbar war, man sich (von außen betrachtet) auf zu Erwartendes hätte einstellen können. Worauf man sich aber nicht einstellen kann!

Ich gestehe, ich weiche allen Erzählformen aus, in denen ein Hund stirbt. Bei Filmen oder Fernsehserien ist meine Hemmschwelle noch niedriger als bei Literatur. Da ich Erstgenanntes selten alleine schaue, sind es wahrscheinlich die Tränen, die ich scheue, gegen die ich aber nur schwer ankomme. Den FIlm „Hachi: A Dog’s Tale“ mit Richard Gere, auf deutsch heißt er: „Hachiko – Eine wunderbare Freundschaft“, habe ich trotz mehrerer Anläufe noch nie zu Ende geschaut. Es geht nicht. Bei Sein Geruch nach Regen wusste ich, worauf ich mich einließ. Da ließ der Klappentext keinen Zweifel. Aber ich habe es ausgehalten, und das nicht nur, weil es sich um eine Lektüre im stillen Kämmerlein handelte. Dabei haben Sie sich, haben Sie mich, haben Sie die Leserinnen und Leser weltweit, nicht geschont. Ihr Protokoll der Sterbebegleitung ist genau. Es ist, und zwar nicht als Floskel, sondern als real spürbare Emotion, auch beim Wiederlesen: herzergreifend, émouvant.

Aber Ihre Schilderung belässt es nicht bei der Trauer um Ubac. Das zeigt sich nahezu am Ende Ihres Buches an der Schilderung Ihrer Wanderung am Pas d’Outray, ein Höhenzug nordöstlich von Beaufort in den Savoyer Alpen. (Auch das, gebe ich zu, musste ich googeln.) Am Liebsten würde ich auch diese Passage zitieren. Aber sie müsste zwangsläufig länger sein und würde damit vielleicht als Bestandteil dieses Blogbeitrags datenschutzrechtliche Belange berühren. Zudem muss ich Ihnen auch nicht mitteilen, was Sie selbst geschrieben haben. Und wer lesen will, der lese, unbedingt.

Sie machen diese Wanderung in einer Art Andenken an Ubac und erleben sich dabei als einen „glücklichen Mann“, um zugleich festzustellen, dass Sie dieses Glück Ubac zu verdanken haben. Sie sprechen ihn direkt an, als wäre er anwesend. Die Mensch-Hund-Einheit ist also nicht aufgehoben, ist präsent über den Tod hinaus, und zwar im Hier und Jetzt. Die Energie des Trostes kann kaum größer sein.

Vor Kurzem bin ich, als ich Ihr Buch in einem Lesekreis vorstellte, gefragt worden, ob es auch interessant sei für Menschen, die keinerlei Bezug zu Hunden hätten oder ob wir es doch nicht eher mit einer Hundeliebhaberlektüre zu tun hätten. Ich konnte die Frage verstehen, habe auch zunächst zögerlich darauf geantwortet. Aber ich habe die Bedenken zurückgewiesen, weil die Tiefendimension Ihres Textes so sehr Menschlich-Existenzielles beleuchtet, ohne es überzubelichten, und eben keine oberflächliche Beziehungsgeschichte ist. Gerade deshalb ist mir, ganz ehrlich, diese Frage, so legitim sie ist, auch persönlich völlig egal.

Lieber Cédric Sapin-Defour, mir bleibt nicht viel übrig als Ihnen zu danken. Ich weiß nicht, wie viele Bücher mich mit mehr Klarheit über mich selbst aus der Lektüre entlassen haben. Einige, zweifellos. Aber bei Weitem die meisten nicht. Was ihnen aber, das möchte ich betonen, nicht pauschal Qualitäten absprechen soll; sie haben eben andere. In Ihr Buch schaue ich wie Sie in den Bergsee am Pas d’Outray. Ob ich einen glücklichen Menschen sehe, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass es trotz allem die Möglichkeit dazu gibt.

Seien Sie auf das Herzlichste gegrüßt!

Cédric Sapin-Defour: Sein Geruch nach Regen. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. – Berlin: Insel Verlag 2025

Nachweis

Für das Beitragsbild habe ich auf einen Ausschnitt aus einem lizenzfreien Foto von Magali H. zurückgegriffen.

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