Kurt Tucholsky: Groß-Stadt – Weihnachten

Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.

Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«

Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.

So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …
»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«

Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke, Band 1: 1907-1918. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. – Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1975, S. 139.

Am 25. Dezember 1913 veröffentlichte die Deutsche Schaubühne, dem Einen oder Anderen vielleicht besser bekannt unter ihrem Namen „Die Weltbühne“, in die sich die Zeitschrift 1918 umbenannte, dieses Gedicht. Es erschien unter dem Autorennamen Theobald Tiger, eines der Pseudonyme des damals 23-jährigen Kurt Tuchoslky. Es scheint, als schriebe sich hier ein junger Mann seine ganze Verachtung von der Seele vor diesen inhaltsleeren Ritualen, mit denen man das Weihnachtsfest ausgestaltet. Das Gedicht strotzt geradezu von Requisiten saturierter Bürgerlichkeit: mediale Grundausstattung (Grammophon, „Lexikohn“), materielle Übersättigung, die Tauschangebote nach sich zieht, ein Wohlstandsmenü mit obligatem „Karpfen“, oberflächliche Kommunikationsverhältnisse, eine deutlich erkennbare patriarchalische Zentriertheit – und dann wird das Fest auch noch egalisiert: das Christfest sei ja „ooch ganz scheen“. Ein Fest halt neben anderen.

Aber dann bekommt das Gedicht eine Ebene, von der wir nicht wissen, ob sie intendiert war, von der wir Rückblickenden aber wissen, dass sie sich bewahrheiten sollte. Kein halbes Jahr später fallen in Sarajewo die tödlichen Schüsse auf den serbischen Thronfolger. Wenige Wochen später gehen in Europa die Lichter aus. So formulierte es im August 1914 der damalige britische Außenminister Edward Grey. Was Tucholsky satirisch festhält, ist eine Vorkriegsgesellschaft. Sie spürt das in gewissen Weise auch. Man „mimt“ den Weihnachtsfrieden. „Wir“ – und man beachte die mit dem Pronomen eingehende Weitung der Befunde – „spielen alle“, ein Fest auf dünnem Boden, ein Tanz auf dem Parkettboden der Titanic. Mag sein, dass der, der es weiß, klug ist. Aber was nützt eine solche Klugheit? Darüber muss das Gedicht zwangsläufig schweigen.

Aktualitätsversuche zu diesem Gedicht erübrigen sich. Es hat sie auch nicht nötig. Aber wer sie spürt, ob intuitiv oder ob seiner oder ihrer Klugheit, wird hoffen, dass ihm das kommende Jahr einen Irrtum attestieren wird. Eine solche Hoffnung wünsche ich nicht nur, aber insbesondere den Leserinnen und Lesern meines Blogs. Danke dafür, dass meine Texte wahrgenommen werden!

Schöne Weihnachtstage, eine besinnliche Zeit zwischen den Jahren und alles erdenklich Gute für 2026!

Ergänzung

Für das Overlay des Beitragsbild habe ich ein Foto aus eigenem Fundus verwendet sowie Foto von Marco Verch unter der Lizenz CC-BY 2.0. Dafür herzlichen Dank.

Wer das Tucholsky-Gedicht einmal hören möchte, hat dazu hier Gelegenheit.

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