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Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

„Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, nie, sondern mit vielen kleinen,
von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Es wird gesagt, dann wird getan.“
(Michael Köhlmeier)

Zeugenschaft ist eine der faszinierendsten und vielleicht auch wichtigsten Merkmale guter Literatur. Zeugenschaft für das, was geschieht, sei es in den Zentren, sei es an den Rändern, sei es auf der Ebene der Ereignisse, sei es auf der der Folgen. Scheinbar paradox mutet es an, dass sie das in der Sphäre der Fiktion leistet, da wo das Ausgedachte, das Erfundene, das Antizipierte näher an der Wahrheit ist als die reale Wirklichkeit. Bewegt man sich lesend vor allem in der sogenannten Gegenwartsliteratur, erst recht in der der eigenen Sprache oder des eigenen Landes, so wird einem das nicht immer bewusst. Das hat wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass geringere zeitliche und räumliche Distanz die Dinge vertrauter erscheinen lässt, erst recht wenn sie nicht literarisch überformt, also fremd gemacht werden. Sie bestärken dann auf durchaus zweifelhafte Weise die unbewusste Annahme, keine Zeugenschaft zu benötigen für das, was man selbst um sich herum erfährt oder erlebt. Es sei denn, ihr gelingt es,  eine solche Fremdheit am Selbstverständlichen über die sprachliche Form und Darstellung herzustellen. Dann, aber eben auch nur dann begegnet uns gute Gegenwartsliteratur.

Wohingegen älterer Literatur Fremdheit und Distanz verstärkt auch schon über die Inhalte eingeschrieben ist. Sie kann Fragen stellen, hier und da auch Fragen beantworten, die man im Geschichtsbuch selten findet. Ein solches Stück Literatur ist Ulrich Alexander Boschwitz‘ Roman Der Reisende. Er entstand unter den Eindrücken der Reichspogromnacht im November 1938, wurde im Laufe des darauf folgendes Jahres fertig gestellt, aber auf Deutsch bisher nie veröffentlicht. Seine Wiederentdeckung, nein eigentlich muss man sagen: seine Entdeckung verdanken wir dem Verleger Peter Graf.

Des Romans grandiose Leistung besteht darin, den Betroffenen eine Stimme zu gehen, den Opfern, heißt: den Ausgegrenzten, den Gedemütigten, den Verfolgten, nicht zuletzt den Ermordeten. Was eigentlich passierte den Juden nach der Pogromnacht im November 1938? Neben Victor Klemperers Tagebüchern aus den Jahren 1933-1945 fällt mir kein Dokument ein, dass mit solcher Intensität die Lebenssituation der Entrechteten und Verfolgten verdeutlicht, und das in einem Zeitabschnitt, bevor der Vernichtungswahn seinen Lauf nahm. Die protokollhafte Sachlichkeit, mit der Klemperer sein eigenes Leben in Nazi-Deutschland festhielt, ist freilich Boschwitz‘ Der Reisende nicht eigen. Er schöpft vielmehr die erzählerischen Mittel der Perspektivwechsel bis hin zur erlebten Rede aus, um nahezubringen, was die Ausgrenzung und Verfolgung beim Einzelnen auslöste. Dabei erweist sich der 1915 geborene Autor mit seinen gerade mal 24 Jahren als beeindruckend souveräner Erzähler.

Zu Beginn des Romans befindet sich die Hauptfigur Otto Silbermann, ein jüdischer Berliner Unternehmer, mit seinem Sozius Becker im Wartesaal der 1. Klasse des Berliner Hauptbahnhofs. Becker war, wie man im Laufe des Gesprächs erfährt, viele Jahre Prokurist der Firma gewesen, bis Silbermann ihn zum Teilhaber machte.Versucht man diese Entwicklung historisch genauer zu verorten, so war diese Teilhaberschaft offenbar schon umgesetzt worden, bevor die sogenannte „Verordnung zur Ausschaltung des Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 Juden die Führung eines Wirtschaftsbetriebs endgültig untersagte. Ohne dass im Roman diese Zusammenhänge ausdrücklich erwähnt würden, drängt sich der Eindruck eines fatalen vorauseilenden Gehorsams bei Otto Silbermann auf. Und das passt zu dieser durch und durch großbürgerlichen Figur mit der typischen Biographie eines ordendekorierten Weltkriegsteilnehmers und erfolgreichen Geschäftsmanns. Mit Becker, dem Kriegskameraden, verbindet ihn ein Vertrauensverhältnis, das auch nicht dadurch gestört wird, dass Letzterer sich als bekennenden Nationalsozialisten bezeichnet, der jedoch kein Antisemit sei. Viel mehr Sorge bereitet Silbermann dessen im Umgang mit Geld leichtsinniger Charakter und dessen Spielsucht. Es erscheint durchaus typisch für die Hauptfigur, dass sie die Übel, die seine Existenz bedrohen, lange Zeit nicht wahrnehmen will.

Silbermanns Leid beginnt, als er nach Hause zurückkehrt und nicht nur auf einen Geschäftspartner trifft, der, die politische Situation ausnutzend, ihm das Haus weit unter Wert abkaufen möchte, sondern als plötzlich Schlägertrupps der SA vor der Tür stehen. Im letzten Augenblick kann Silbermann fliehen und beginnt eine Odyssee durch Deutschland, die mit dem 2. Kapitel einsetzt. Silbermann reist mit der Eisenbahn quer durch das Land, versucht vergeblich, von Aachen aus über die Grenze nach Belgien zu fliehen. Er wird, nicht zuletzt weil er das Glück hat, aufgrund seines Aussehens nicht für einen Juden gehalten zu werden, auf diesen Fahrten zum Ohrenzeugen von Bewusstseinslagen in Deutschland. Ihm begegnen Menschen aller sozialer Schichten, Nazis, Mitläufer, Feiglinge und Verängstigte, und sie alle schaffen mit ihrem Reden und Handeln ein Portrait vom Innenleben des Dritten Reichs, das in dieser Eindringlichkeit ein Historiker kaum nachzuzeichnen in der Lage sein wird.

Ergreifend ist aber ebenso, wie sich der Charakter des Otto Silbermann verändert, dieser Mann, der zu Beginn großbürgerlich-arrogant, trotz der letzten Jahre im NS-Regime noch immer politisch naiv und letztlich völlig weltfremd auftritt. Nein, wer jetzt erwartet, dass dieser Mann zum Helden wird, der wird enttäuscht sein, er wird zum Verfolgten, der sich in seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit, in seinem Verhalten und in seinem Denken den Strukturen der Verfolgung immer mehr anpasst, der nicht nur in seiner materiellen  Existenz, sondern in seiner Persönlichkeit zerstört wird – und das eben schon geraume Zeit bevor die Deportationszüge in die Vernichtungslager rollten.

Das literarisch einzufangen und eindringlich zu machen, ist die besondere Leistung des Romans. Man fragt sich, was man noch alles von diesem Autor hätte erwarten dürfen, hätte er eine Chance gehabt, Krieg und Verfolgung zu überleben. Aber er hatte keine. Als sogenannter Halbjude verließ er Deutschland schon 1935, zunächst nach Schweden, dann nach England, wo er interniert wurde. Weil man auf der Insel nicht wusste, was man mit den Geflohenen anfangen sollte, wurden sie nach Australien verbracht. Oder sollte man sagen: deportiert? 1942 hatte er Gelegenheit, zurückzukehren nach Großbritannien. Auf der Rückreise wurde das Schiff von einem deutschen U-Boot angegriffen, torpediert und sank. Ulrich Alexander Boschwitz war 27 Jahre alt, als er starb. Bei allem Unglück ist es ein Trost, diesen Roman zu haben, und ein verlegerisches Verdienst, das kaum hoch genug eingeschätzt werden kann.


Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende, Roman.Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf. – Stuttgart: Klett-Cotta 2018 (20.- €)

Nachlese

Weitere Besprechungen des Romans findet man unter anderem beim Kaffeehaussitzer, auf KeJas-BlogBuch und im Bücherkaffee,

Quelle für das Beitragsbild: Pixabay