In seinem mittlerweile über 20 Jahre alten wunderbaren Essay „Wie ein Roman“ formulierte Daniel Pennac zehn „unantastbare Rechte des Lesers“, die seither immer wieder aufgenommen werden und in eigene Überlegungen einfließen. Das dritte der Rechte, die Pennac in seinem Dekalog festhält, ist das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. Ob es dafür 36.000 Gründe gibt, wie er ironisch bemerkt, oder ob es derer nur 5 sind, lassen wir mal dahingestellt. Pennac beschäftigt sich letztlich nur mit einem einzigen Grund. Nicht die tatsächliche oder vermeintliche Banalität des Geschriebenen, nicht die aufdringliche Thesenhaftigkeit des Erzählten, nicht die abgedroschene Erzählkonstruktion und der schlecht funktionierende Plot, nicht die hochnäsige Überheblichkeit des Autors/Erzählers, der mich als Leser entweder für blöd hält oder zu bevormunden oder gar zu infantilisieren versucht, interessiert den Romancier und Essayisten. Er beschäftigt sich mit dem ganz auf sich selbst bezogenen, „unbestimmte[n] Gefühl des Scheiterns“.
Ich habe das Buch aufgeschlagen, ich habe gelesen und mich bald von etwas überwältigt gefühlt, was, wie ich fühlte, stärker war als ich. Ich habe meine Neuronen gesammelt, ich habe mit dem Text gekämpft, nichts zu machen, auch wenn ich das Gefühl habe, daß das Geschriebene es verdient, gelesen zu werden, ich kapiere nichts oder so viel wie nichts, ich spüre eine „Fremdheit“, die mir keinen Zugang bietet.
Ich lasse das Buch fallen.
Wenn ich also hier Bücher notiere, deren Lektüre ich in diesem Jahr abgebrochen habe, dann sagt das wenig über die Bücher und ihre Qualität, selbst dann wenn ich begründen kann, warum ich nicht weiterlas. Aber es sind meine Gründe, sind Gründe, die vielleicht in ein paar Wochen, vielleicht auch erst in ein paar Jahren nicht mehr gelten. Und vor allem: sie gelten nur für mich. Jedem sei zustanden, ja vergönnt, zu lesen und das eigene Scheitern abzuwenden.
Also, in chronologischer Reihenfolge dieses Scheiterns …
Lizzie Doron: Who the fuck is Kafka
Fuck!? Ich saß im Wohnzimmer eines guten Freundes, der gerade den Raum verlassen hatte, um in der Küche neuen Kaffee aufzubrühen, als mein Blick auf einen kleinen Stapel Bücher fiel, die auf dem Tisch lagen. Mein Abstand zu den Büchern war so groß, dass ich die Titel nur noch unscharf lesen konnte. Entziffern konnte ich aber, was man sich auch nun immer ob dieses Umstands denken mag, das F-Wort. Und das passt nun so gar nicht ins Sprachrepertoire des Freundes, das nicht nur humanistisch gebildet, sondern vor allem human geprägt ist. „Fuck“ – das kommt bei ihm bestenfalls als Verweis auf andere Sprachsysteme vor, nie als authentischer Ausdruck. Doch gerade das machte mich neugierg. Ich erhob mich, griff nach dem Buch und las dann auch den ganzen Titel. Der Freund, mittlerweile zurückgekehrt aus der Küche, erzählte mir in groben Strichen, worum es geht in den Buch. Er ist nicht nur passionierter Leser, sondern auch ein Kenner der Geschichte Israels und seiner Literatur, zumindest ein sehr viel größerer Kenner als ich – und so entschied ich, es mir zu kaufen und zu lesen.
Gedankensprung: Ich habe das Buch fallen lassen. Unmittelbar nach Abbruch der Lektüre hörte ich bei einer Autofahrt einen literaturkritischen Beitrag im Radio, der resümierte: Ein thematisch anregendes, literarisch aber eher schwaches Buch. Ich bilde mir ein und rechtfertige mir selbst gegenüber den Leseabbruch damit, dass diese Argumentation nicht geht. Gerade weil ich es als ein literarisch schwaches Buch wahrgenommen habe, war es thematisch auch nicht anregend, konnte es gar nicht sein. Sinngemäß heißt es irgendwo bei Goethe: Man erkennt die Absicht und man ist verstimmt. Diese Verstimmung erfasste mich sehr schnell. Nein, die israelisch-palästinensische Wirklichkeit müsste literarisch gestaltet und überformt werden, um den Konflikt zu erhellen – wie zum Beispiel in Assaf Gavrons Roman Ein schönes Attentat, den ich im letzten oder vorletzten Jahr gelesen habe (im übrigen auch vom genannten Freund empfohlen). Hier in Dorons Buch aber bleibt alles, so zumindest habe ich es wahrgenommen, Traktat, der das ohnehin traurig Bekannte wiederkäut. Und das führte zum Ende der Lektüre nach sechzig, siebzig Seiten.
Lizzie Doron: Who the fuck is Kafka. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. – München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH 2015 (14,90 €)
Umberto Eco: Nullnummer
Ich hatte mich gefreut auf diesen „Eco“, wollte ihn unbedingt lesen. Meine Frau kam mir allerdings zuvor und war wenig angetan. Aber das heißt nichts; nicht selten gehen unsere Leseeindrücke und literarischen Vorlieben auseinander. Nur diesmal …
Das Lesebändchen dieses sehr schön gestalteten Bches liegt zwischen den Seiten 108 und 109. Ich bin also recht weit gekommen und habe trotzdem aufgehört. Mag sein, man kann den Roman als Schlüsseltext auf die italienischen Medien- und Politikverhältnisse lesen, mag sein, er entfacht auch wieder ein zeichentheoretisches Feuerwerk, das zu entziffern Subtext um Subtext hervorbringt, mag sein, man kann ihn als Krimi konsumistisch wahrnehmen, mag sein, dass ihn all das auszeichnet und gar in die Nähe rückt zu Der Name der Rose – das Einzige, was sich mir wirklich erschlossen hat, war die Langeweile, die von ihm auf mich ausstrahlte. Was ich gelesen habe, waren Abfolgen hölzerner Dialoge, Figurenkonstellationen, die, auf einem Schachbrett aufgebaut, steril blieben, so als wolle man Versuchsanordnungen vorführen, die ohne Leben sind. Das war dann doch zu wenig um durchzuhalten. So blieb mir der Roman das, was sein Titel ankündigte.
Umberto Eco: Nullnummer. Roman. Aus dem Italienischen von Burkhard Kröber. – München: Hanser Verlag 2015 (21,90 E)
Inger-Maria Mahlke: Rechnung offen
Eine verspätete Lektüre, genauer ein Versuch. In diesem Jahr sprach man kaum noch von Inger-Maria Mahlkes Erstlingsroman, als vielmehr über Wie ihr wollt, einem, glaubt man den Kritiken, historischen Roman, der es schließlich und wohl für viele überraschend diesen Herbst auf die Shortlist für den deutschen Buchpreis schaffte. Rechnung offen habe ich geschenkt bekommen, und zwar von dem schon mehrfach erwähnten Freund. Der scheint in diesem Jahr kein Glück zu haben bei mir mit den Buchempfehlungen. Aber ich bin zuversichtlich: Das war in anderen Jahren anders und wird auch wieder anders werden.
Was man dem Roman von Beginn an anmerkt, ist sein Gestaltungswille: Arbeit an der Form und Arbeit an der Sprache – und das ohne Zweifel mit großer Gewissenhaftigkeit. Eine ambitionierte Erzählkonstruktion, in deren Mittelpunkt ein Mietshaus in einem Berliner Kiez steht – oder eigentlich muss ich sagen: zu stehen scheint. Denn früh bin ich gescheitert. Auch hier gibt es ein Lesebändchen; es liegt zwischen den Seiten 46 und 47. Bis dahin waren mir eine Reihe von Figuren entgegentreten, deren Lebenszusammenhänge aus assoziativ montierten Innenperspektiven belichtet wird. Irgendwie werden diese Lebenszusammenhänge zusammenlaufen, nehme ich an; und das wohl in dem Mietshaus. Ich aber bin überhaupt nicht in einen Lesefluss geraten, der es mir erlaubte, Fäden und Verbindungen in Ruhe aufzunehmen und im Prozess des Lesens miteinander zu verknüpfen. Was ich allein registrierte, waren Fetzen gescheiterter Lebensverhältnisse, für die ich nicht in der Lage war Interesse zu entwickeln. Vielleicht kommt das noch – zu einem späteren Zeitpunkt in einem späteren Jahr.
Inger-Maria Mahlke: Rechnung offen. Roman. – Berlin: Bloomsbury Verlag 2013 (19,9,9 €); mittlerweile auch als Taschenbuch erhältlich im Berlin Verlag Taschenbuch (9,99 €)