Las man die Vorankündigungen seitens des Verlags zum neuen Roman von Peter Stamm oder wirft man einen Blick auf den Klappentext, so steigt im Leser vielleicht die Ahnung, bei dem einen oder anderen auch die Befürchtung auf, man höre beim Lesen im inneren Ohr immer das Mundharmonika-Solo aus Udo Jürgens‘ Evergreen „Ich war noch niemals in New York“. Bei aller Wertschätzung für Udo Jürgens wie auch für dieses Lied verflüchtigt sich beim Lesen des Romans diese Assoziation aber schnell – zumindest für lange Zeit.
Die Ausgangslage erscheint zunächst vollkommen absurd. Wir finden eine klassische Kleinfamilienkonstellation vor: Vater, Mutter und zwei Kinder (ein Mädchen, ein Junge). Diese Familie kommt von einem harmonischen und rundum gelungenen Spanienurlaub zurück. Es ist Abend. Die Kinder sind müde und recht schnell bettfertig. Das Ehepaar, Thomas und Astrid, sitzt noch eine Weile auf der Bank vor dem Haus. Schließlich geht die Ehefrau hinein, räumt noch ein wenig auf und macht sich dann ebenfalls bereit, ins Bett zu gehen. Der Ehemann bleibt noch eine Weile draußen sitzen, steht schließlich auf, zögert ein wenig … und geht dann weg. Er geht einfach weg, verlässt den Ort, verlässt die Familie und kehrt nicht zurück. Erklärt oder gar motiviert wird auf der Oberfläche des Erzähltextes nichts, gar nichts.
Diesen Verzicht auf Kommentierung hält Peter Stamm über den gesamten Roman durch. So bleibt der Leser mit seinem Erstaunen alleine und rutscht so zumindest ein bisschen in die existenzielle Leerstelle hinein, die die Hauptfiguren prägt. Denn das Erstaunen geht weiter. Da ist eben nicht nur Thomas, der plötzlich alles daran zu setzen scheint, wegzukommen, einfach nur wegzukommen, dem es lange Zeit gleichgültig zu sein scheint, dass er für die Wanderung ins Gebirge hinein vollkommen unzureichend gerüstet ist, erst recht, dass er eine Familie zurücklässt. Nur weg! Da ist auch Astrid, seine Frau, die sich ebenso überraschend schnell darüber im Klaren ist, dass Thomas sie und ihre Kinder verlassen hat. Sie zögert lange, bevor sie sich an die Polizei wendet und eine Vermisstenanzeige aufgibt. Es werden zwar Gründe für ihr Zögern genannt, Hoffnung auf Thomas‘ Rückkehr und auf banale Gründe für sein Verschwinden, später Scham, aber sie wirken wenig überzeugend. Und selbst von den Kindern hätte man wohl mehr Erschütterung erwarten können angesichts des Umstands, dass ihr Vater verschwunden ist.
Der Sog, den der Text auslöst, basiert auf der Ambivalenz der Figuren. Sie bleiben in ihrem Verhalten fremd und erscheinen in ihrer Normalität sogleich so nah. Peter Stamm zeichnet zwei Bewegungen nach. Das ist bei Thomas die Bewegung im Raum, die immer weiter ausgreift und am Ende des Romans halb Europa durchzogen hat, bei Astrid ist es die Bewegung in den Strukturen bürgerlicher Ordnung, die sie nie verlässt. Spätestens in dem Moment, als Astrid Nachricht von der Polizei erhält, ihr Mann sei bei seiner Wanderung tödlich verunglückt, wird der Roman doppelbödig. Die konjunktivischen Formulierung nehmen auffallend zu, Thomas‘ Beerdigung wird erwähnt, während er sich zugleich (tatsächlich?) auf dem Weg nach Italien befindet. Nichts ist mehr gewiss. Zugleich nimmt der Roman an Fahrt auf. Wurde bis dahin sehr genau und detailliert, fast von Tag zu Tag erzählt, was die beiden Hauptfiguren machen, so werden die Zeitsprünge nun größer. Der Erzähler rafft zunächst Wochen, schließlich Monate und Jahre. Am Ende sind es zwanzig Jahre, die vergangen sind; mittlerweile gibt es eine Enkelgeneration. Große Zeiträume, in denen sich Astrid und Thomas eingerichtet haben in ihren Lebensweisen. Und trotzdem bleiben sie in ihrer Entfernung voneinander stets aufeinander bezogen. Weder Thomas noch Astrid gehen eine feste Beziehung ein, sie vergessen einander nie. Die einzige Kompensation, die sich Astrid erlaubt, ist ein Hund.
Am Ende ein Happy end? Thomas kehrt zurück, wie gesagt nach zwanzig Jahren, und Astrid ist sich gewiss, dass er es ist, der vor der Tür steht.
Und plötzlich war sich Astrid sicher, dass Thomas all die Jahre kein anderes Leben geführt hatte, dass er keine neue Beziehung eingegangen war, keine Kinder bekommen, noch nicht einmal seinen Beruf ausgeübt, sich weitergebildet, sich weiterentwickelt hatte. Wie sie hatte er gewartet auf diesen Moment, diesen kurzen Augenblick des Glücks, in dem er die Hand auf die Türklinke legen und sie herunterdrücken würde. Diesen Moment, in dem die Tür sich öffnete und sie ihn sah als verschwommene Silhoutte im hellen Mittagslicht.
Und wenn ein Happy end ist, ist es dann Kitsch? Dass Stamms Texte in der Literaturkritik unter Kitschverdacht geraten, ist keineswegs neu, und er hat sich in seinen Bamberger Poetikvorlesungen 2014 damit auseinandergesetzt. Darin verweist er auf seinen kurzen Text „Ankleben verboten!“ – Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen. Dort heißt es unter Punkt 6:
Hüte dich vor der Ironie. Benutze sie nicht, um dich vor Gefühlen zu drücken. Dem Kitsch entgehst du durch Genauigkeit.
Die Frage ist, inwiefern Stamm am Ende wie im Gesamt des Romans sein Genauigkeitsdiktum einlöst. Er erweist sich als ausgesprochen genauer Beobachter, gewährt dem Leser Einsicht in die Wahrheit der kleinen Gesten und unscheinbaren Verhaltensweisen, in das Poröse dessen, was wir ansonsten landläufig als Alltag wahrnehmen, in die unauflösbaren Reste, aus denen sich Sehnsucht nach dem Anderen des eigenen Lebens speist. Vieles, vielleicht das Eigentliche erschließt sich in den Texten Peter Stamms erst beim zweiten und dritten Lesen. Wenn man den Schluss von Weit über das Land liest, hat man aber schließlich doch den Eindruck, als erklinge im Hintergrund diese Mundharmonika und jemand sänge „War was? – Nein, was soll schon sein.“
Peter Stamm: Weit über das Land. Roman. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2016 (19,99 €)
Peter Stamm: Die Vertreibung aus dem Paradies. Bamberger Vorlesungen und verstreute Texte. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2014 (21,99 €)
Nachlese
- Interessantes Interview mit Peter Stamm auf der Leipziger Buchmesse 2016 zu seinem Roman und seinen poetologischen Grundüberzeugungen. Sein Gesprächspartner Wolfgang Tischler von literaturcafé.de ist allerdings etwas nervend. Als Interviewer verhält er sich zu Peter Stamm ähnlich wie als Leser zu seinem Roman. Da sagt nicht nur der Rest: Hä?
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