Stephan Thome: Gott der Barbaren

Thome, Gott der Barbaren

Eingeständnis

Keine Ahnung!
Noch nie etwas vom Zweiten Opiumkrieg gehört?
Ja,  doch, vage, äußerst vage. Ein Konflikt, ich glaube oder vermute,
zwischen China und Großbritannien, irgendwann im 19. Jahrhundert.
Ja, Großbritannien wohl. Denn wer tummelte sich sonst in dieser Zeit
mit Kolonialambitionen in Ostasien? Wahrscheinlich ging es um
den Zugang zum Opium, wozu auch immer man das zu brauchen
glaubte.
Eine genauere Datierung als „19. Jahrhundert“ ist nicht möglich?
Ohne herumzuraten oder zu spekulieren? Nein.
Schon einmal etwas vom Taiping-Aufstand gehört?
Wovon?

Der Doppelkonflikt

Stephans Thomes Geschichtsroman Gott der Barbaren spielt in den Jahren 1858 bis 1864 und umfasst das Ende des kriegerischen Konflikts zwischen dem Kaiserreich China und dem Vereinigten Königreich, der landläufig als Zweiter Opiumkrieg (1856-1860) bezeichnet wird,  und die letzten Jahre des Taiping-Aufstands (1851-1864). Im erstgenannten Konflikt ging es um Zugänge zu den chinesischen Häfen und um Ausdehnung des freien Handels, der im handfesten Interesse der Kolonialmacht Großbritannien lag. Mit dem Taiping-Aufstand verbindet sich der bislang opferreichste und grausamste Bürgerkrieg der Geschichte, in dessen Folge rund 30 Millionen Menschen ihr Leben verloren. DieTaiping-Bewegung war letztlich eine von christlichen Einflüssen geprägte dubiose Sekte um deren Führer Hon Xiuquan, der sich für den jüngeren Bruder Jesu hielt. Getragen wurde die fundamentalistische Bewegung im Wesentlichen von ethnischen Minderheiten, die gegen das niedergehende Kaiserreich der Qing-Dynastie aufbegehrte und es an den Rand des Zusammenbruchs brachte.

Stellvertreter

Die Romanhandlung bewegt sich entlang der Schnittmengen der beiden Konflikte und lässt sie Gestalt gewinnen anhand der Lebensläufe dreier Zentralfiguren, die zudem von einer Vielzahl von Stimmen und Nebenfiguren begleitet werden. Dabei erzählt Thome weithin chronologisch, wechselt aber in der Montage der Erzählstränge wie auch mittels Einschübe tatsächlicher oder fiktiver Dokumente immer wieder die Perspektive.

Eine der Hauptfiguren ist Philipp Johann Neukamp, ein junger Deutscher, der, fasziniert vom politischen und ideologischen Programm Robert Blums, an der 1848er-Revolution teilgenommen hatte, nach deren Scheitern schließlich als Missionar der Basler Missionsgesellschaft in Hongkong landete  und sich schließlich der Taiping-Bewegung anschloss. Dieser Philipp Johann Neukamp ist die einzige der drei Hauptfiguren, die rein fiktiv angelegt ist; sie ist nicht historisch verbürgt. Mit ihr gelingt es Thome, dem Leser die Fremdheit des chinesischen Kulturraums ebenso näher zu bringen wie die Annäherung daran, die aber immer von Distanz und letztlich auch von Unverständnis geprägt ist. Nach dem Zusammenbruch der Taiping-Bewegung gelingt Neukamp schließlich die Flucht, die ihn dann nach Nordamerika verschlägt.

Erzähltechnisch interessant ist an dieser Figur darüber hinaus, dass sie als einzige lange Zeit als Ich-Erzähler agiert, und zwar genau so lange bis aus diesem Philipp Johann Neukamp Fei Lipu wird, der in die fragile Hierarchie der Taiping-Bewegung aufgenommen wird. Von dem Moment an wird er zur Figur eines auktorialen, zum Teil personalen Erzählers wie die beiden anderen Protagonisten aus.

Sie sind historische Personen, die in den beiden Konflikten exponierte Rollen spielten. Da ist zum einen Lord Elgin, der als Sonderbotschafter der britischen Krone die, wie soll man sagen, gesamtpolitische Leitung im Zweiten Opiumkrieg innehatte und – aus Sicht der Briten – erfolgreich abschloss. So erfolgreich, dass er schließlich zum Dank zum Vizekönig von Indien ernannt wurde, wo er dann auch starb.

Den Konterpart bildet Zeng Guofan, der Oberbefehlshaber der Hunan Armee, der es am Ende gelang, den Taiping-Aufstand niederzuschlagen und das Kaiserreich China in seinen Strukturen zu bewahren. Als Widersacher Lord Elgins kann man ihn nicht so recht bezeichnen, denn die beiden haben trotz der vielfältigen und zum Teil auch durchaus verworrenen Verästelungen der konfliktreichen Entwicklung kaum unmittelbar miteinander zu tun.

Dabei verbindet beide Figuren eine Menge. Sie sind hochgebildet, bewegen sich in durchaus kritischer Distanz zu den politischen und gesellschaftlichen Systemen, die sie vertreten, ja man kann sie durchaus als Feingeister und Intellektuelle bezeichnen. Ihre Charaktere prägt jedoch ein großes Obwohl. Denn obwohl sie weithin die Verhältnisse durchschauen, in denen sie sich bewegen, setzen sie gleichzeitig deren Interessen rücksichtslos, ja auch skrupellos durch. Es sind nicht zuletzt ihre Entscheidungen, die die Zeitläufe in einem Strom von Blut waten lassen. Thome gelingt es mit seiner geschickten Erzählkonstruktion die Barbarei der Ereignisse und Entwicklungen schonungslos zu entlarven, ohne Gewaltexzesse allzu offen ausfabeln zu müssen.

Clash of Civilization

Auch wenn sich im Regelfall die Möglichkeit nicht ergibt, Fakten und historische Zusammenhänge genau zu überprüfen, so entsteht doch beim Lesen der Eindruck, dass Thome sehr genau mit Ereignissen und dargestellten Entwicklungen umgeht. Ihm gelingt es dabei einen historischen Roman im besten Sinne zu schreiben, im besten Sinne, weil er bemühte Aktualisierungen nicht nötig hat. Die Zusammenhänge sprechen aus sich heraus. Dabei erscheint Gott der Barbaren geradezu als erzählerisch opulente Illustration von Samuel Huntingtons These vom „Clash of Civilization“, dem Zusammenprall der Kulturen, die der Politologe Ende der 90er Jahre als gefährlichen Glutkern für das 21. Jahrhundert prognostiziert hatte. Nur mit dem Unterschied, dass er sich rund 150 Jahre vorher schon einmal ereignete und fatale Mechanismen kenntlich wurden. Hier prallen die Krise eines Imperiums, die rücksichtslose Durchsetzung von Handelsinteressen und eine fundamentalistische  Ideologie aufeinander und reiben sich in kaum vorstellbar grausamen Exzessen aneinander auf. Jede Seite hält die jeweils andere für Barbaren – und hat bei Lichte besehen durchaus recht. Nur für die eigene Barbarei ist sie blind.

Deutlich wird ebenso, dass man einander nicht versteht. Kulturelle Differenzen führen zu Missverständnissen und zu Eskalationen. “ … Ihnen hat man schließlich nie eingeredet, dass Gegenteile einander ausschließen …,“ erinnert sich der sterbende Lord Elgin an ein Gespräch mit einer Chinesin, die er sich während seines Engagements in China als Konkubine hielt.

„Wie denken Sie, wenn ich fragen darf? Ihnen hat man schließlich nie eingeredet, dass Gegenteile einander ausschließen. Wenn ich unter allem, was ich über Ihre Zivilisation gelernt habe, eine bewundernswerte Einsicht finde, dann diese: dass in unserer Welt nichts ein Gegenteil besitzt, das nicht zugleich es selbst ist. Sicherlich verstehen Sie das besser als ich. Ich muss zugeben, eher intuitiv zu erkennen, dass eine tiefe Wahrheit darin stecken könnte. Traditionell denken wir Abendländer anders, aber es ist schwer genug, überhaupt zu denken – auch noch zu verstehen, wie man denkt, ist beinahe unmöglich, nicht wahr?“

Eine luzide Einsicht. Aber sie kommt zu spät. Lord Elgin wird kurz danach sterben. Die Unmöglichkeit, zu verstehen, wie man denkt – das könnte durchaus das Resümee dieses mehr als 700 Seiten umfassenden Romans sein, wäre er nicht zu komplex, um ihn auf diese Einsicht zu reduzieren; keine beruhigende Einsicht ohnehin.

Preiswürdig

Was Stephan Thome mit seinem vierten Roman vorgelegt hat, ist schon ein Opus Magnum, nicht nur des Umgangs wegen. Er zeugt nicht nur von einer beeindruckenden Sachkenntnis des von Haus aus zum Schriftsteller gewordenen Philosophen und Sinologen. Der Detail- und Facettenreichtum des Stoffes und das erzählerische Raffinement des Romankonstrukts, das bei aller Komplexität lesbar bleibt, werden zwar nicht verhindern, dass der eine oder andere Leser für sich vereinzelt Längen in der Entfaltung der Erzählfäden wahrnehmen wird. Nach der Lektüre wird er auf alle Fälle ahnungsvoller sein als zuvor. Dieser Roman gehört zweifellos zu Recht in den ganz engen Kreis der Kandidaten für den Buchpreis 2018. Ihn auch im für Stephan Thome nunmehr dritten Anlauf nicht bekommen zu haben, ist, bei allem Respekt vor der getroffenen Entscheidung, bedauerlich.


Stephan Thome: Gott der Barbaren. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2018 (25.- €).

Nachlese

Verlagsinformationen zum Roman finden Sie an dieser Stelle. Ein auf Chinesich geführtes und mit deutschsprachigem Untertitel versehenes Autorengespräch gibt es hier.

Weitere Beschäftigungen mit Thomes Gott der Barbaren findet man unter anderem auf den Blogs Poesierausch, Buch-Haltung, Bookster HRO, LiteraturReich, letteratura, Frau Lehmann liest und Exlibris.

Bildnachweis:

Für das Beitragsbild wurde eine unter Public Domain stehende historische Landkarte Chinas verwendet, die Wikimedia Commons freundlicherweise von Geographicus Rare Antique Maps zur Verfügung gestellt wird.

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2 Kommentare zu „Stephan Thome: Gott der Barbaren“

  1. Ich habe die letzten Romane von Thome sehr gern gelesen. Noch vor kurzem hatte ich für dieses neue Buch wegen seines Themas wenig Interesse gezeigt. Angesichts Deiner wundervollen Besprechung sollte ich meine Meinung allerdings noch einmal überdenken. Viele Grüße

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