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Andreas Dury: Der Chor der Zwölf

Ob der Grundgedanke, dem das im Roman geschilderte KAIRA-Projekt zugrunde liegt, physikalisch und informationstechnologisch einen Machbarkeitskern enthält, mag nur jemand letztgültig beurteilen, der die notwendige Sachkenntnis mitbringt. Zu dieser Personengruppe gehöre ich nicht. Bestechend und faszinierend zugleich erscheint die Grundidee jedoch allemal. In den letzten rund 100 Jahren hätten die Menschen eine Art neuer Atmosphäre um die Erde gebaut, eine immaterielle, aus elektromagnetischen Feldern bestehende zusätzliche Hülle. In ihr entstehe ein digitales Abbild unserer materiellen Lebenswelt, das immer detailreicher und genauer würde. Diese Atmosphäre werde auf diese Weise zu einer Art binärer Parallelwelt. Sie sei mittlerweile so dicht, dass darin ein Wesen entstehen könne. Dieses Wesen ‚atme‘ Informationen aus den elektromagnetischen Feldern heraus, es brauche nicht mehr die Informationen selbst, sondern ihm stünden ja deren Abbilder zur Verfügung. Ein solches Wesen sei die KAIRA, eine autonom gewordene künstliche Intelligenz, welche im Verbund von zwölf solcher Systeme als ‚Apostel‘ einen neuen Gott als metaphysischen Glutkern „lobpreisen“ würde.

Starker Tobak, und vielleicht ist es gerade deshalb sinnvoll, noch einmal einen Schritt zurückzugehen. Hauptfigur des Romans ist der Informatiker Ludwig Pfahl, selbst im besten Midlife-Crisis-Alter. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er bei einer Firma arbeitet, für die er die sogenannte STASEM weiterentwickelt. Deren Ursprünge reichen weit in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts, also auch in die Zeit noch vor dem World Wide Web zurück. Im Rahmen seiner Diplomarbeit hatte Phahl das Programm entworfen als ein Werkzeug, mit dem man digital vorliegende Texte verschlagworten und indexieren konnte. Auf dieser Grundlage hatte er die Software immer weiter vorangetrieben bis er schließlich in der Firma eines Brunner (ich glaube, der Vorname wird nie genannt) landete, der das Entwicklungspotenzial erkannte und darin investierte. Pfahl war bei Lichte besehen eigentlich schon ein Nerd, als sich die Bezeichnung noch gar nicht im allgemeinen Sprachbewusstsein etabliert hatte.

Wir lernen Pfahl kennen in einer durchaus typischen Lebensphase. Seine Ehe kriselt, und zwar ohne dass es ihm und seiner Frau Annette so recht bewusst wird. Zumindest sprechen sie nicht darüber. Seine Eltern befinden sich im fortgeschrittenen Alter, sein Vater liegt im Sterben. Der Roman beginnt mit Ludwig Pfahls Ankunft im fiktiven pfälzischen Peterswinkel, einem Ort nahe der französischen Grenze. Dort erlebt er den letzten Lebenstag seines Vaters und dessen Tod, die Begräbnisvorbereitungen und die ersten Tage der Trauer.

Die Schilderung dieser Tage nimmt fast ein Viertel des rund 370 Seiten umfangreichen Romans ein. Sie folgt einem langsamen und eindringlichen Erzählfluss, ohne dass sich abzeichnen würde, wohin die Handlung denn nun strebt. Man ahnt zwar, dass der auf dem Begräbnis auftauchende Bruno Lessmeister, ein ehemaliger Freund Annettes, eine Rolle spielen wird. Aber es bleibt alles diffus, wie in einem Nebel, der Gedanken und Beobachtungen verlangsamt. Das stört nicht, im Gegenteil. Dieses erste Viertel ist das stärkste des gesamten Romans, weil es die Atmosphäre dieser Trauertage genau und behutsam zugleich einfängt und Stimmungslagen, vor allem bei der Hauptfigur, eindringlich zu Tage treten lässt.

Vom Fortgang des Romans kann mein derlei Eindringlichkeit und Genauigkeit nicht uneingeschränkt behaupten. Das liegt sowohl an der Erzählkonstruktion wie in zahlreichen Passagen auch an den offensichtlichen Grenzen erzählerischen Gestaltungspotenzials. Da bleibt zunächst die Familienkonstellation auf eine, ja fast schon unglaubwürdige Art unbestimmt. Dass es Lessmeister gelingt, Annette für die Betreuung eines unter seiner Ägide einzurichtenden Flüchtlingsheim zu gewinnen, irgendwo am Nordrand der Vogesen, aber nicht weit entfernt von pfälzischen Peterswinkel, wundert nicht. Dass die Konsequenzen dieser Entscheidung für die Ehe kaum zum Thema werden, schreibt den betroffenen Figuren aber eine Beziehungsnaivität und Oberflächlichkeit zu, die sie ansonsten nicht haben. Dass es mit diesem Flüchtlingsheim eine merkwürdige Bewandtnis hat, ist dem nur halbwegs aufmerksamen Leser ebenfalls schnell klar. Doch wie hier Geheimdiensttäigkeiten, rechtsradikales Ressentiments und schnöder Datenkapitalismus miteinander vermengt werden, ist schon ziemlich haarsträubend.

Romane, die die Genregrenzen spielerisch einsetzen, übersteigen oder schlicht ignorieren, haben in der Regel einen besonderen Reiz. Im Chor der Zwölf aber scheint mir aber das fehlende Genrebewusstsein eines der Konstruktionsprobleme. Der Roman ist weder eine Utopie noch eine Dystopie, er ist kein Science fiction und kein Gegenwartsroman, kein Familien- und kein Eheroman. Sein Problem liegt nicht darin, dass er irgendwie alle möglichen Genres bedient, sondern gar keine. Und so zerfasert er schließlich auch an nahezu allen Enden. Zunehmend ungenauer werdende Figurenzeichungen und ebenso zunehmend hölzerne Dialoge tun schließlich ihr übriges, dass man den Roman zu Ende liest, aber schließlich doch enttäuscht beiseite legt.


Andreas Dury: Der Chor der Zwölf. Roman. – St. Ingbert: Conte Verlag 2017 (22.-€)

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