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Martin Walser in Aachen Eine Verbeugung

Die „Bühne“ ist die größte der drei Spielstätten des Theaters Aachen. Dort finden auf drei Ebenen, dem Parkett sowie dem ersten und zweiten Rang, rund 730 Zuschauer Platz. Der Zuschauerraum hat viel Höhe, vergleichsweise wenig Tiefe. Dieser Umstand ist den Vorstellungen von Theaterarchitektur im frühen 19. Jahrhunderts geschuldet (das Haus wude 1825 eröffnet) und wurde auch nicht grundlegend verändert, als das Theater, nach einem schweren Bombenangriff 1943 vollkommen zerstört, acht Jahre später, 1951, wieder seinen Betrieb aufnehmen konnte. Folge des Ganzen ist, dass man von einer ganzen Reihe von Plätzen im zweiten Rang große Teile der Bühne nicht oder nur schlecht sehen kann. Dass aus diesem Grund dieser Rang häufiger gar nicht geöffnet wird, weil die Nachfrage zu gering ist, ist aber nicht alleine den räumlichen Verhältnissen zuzuschreiben. Doch lassen wir das.

Wenn dann aber eine Lesung Martin Walsers auf der „Bühne“ mehr als 650 Menschen ins Theater führt, die ihn sehen und hören wollen, wenn also das Haus auf ungewohnte Weise sehr gut besucht ist, alle Ränge fast vollständig besetzt sind, dann zeigt das vor dem Hintergrund der oben skizzierten Umstände, welch große Strahlkraft dieser Mann immer noch – oder vielleicht muss man sagen: gerade jetzt besitzt. Und das bei Lesern unterschiedlichster Generationen. Da waren unter Dreißigjährige ebenso zu sehen wie Generationsangehörige des Autors, vielleicht noch nicht ganz so alt wie er selbst.

Walser. Statt etwas lesend
Martin Walser, 25. März 2017

Vor rund zweieinhalb Jahren war Walser zum letzten Mal in Aachen, um hier zu lesen, und manches erinnert an diesen Auftritt, damals in der Mayerschen Buchhandlung. Jetzt tritt, gemeinsam mit dem Chefredakteur der Aachener Zeitung Bernd Mathieu, Walser hinter einem blau ausgeleuchteten Vorhang hervor und trippelt mehr als er geht zu seinem Sessel. Man sieht, gut zu Fuß ist er nicht mehr, die Arme vom Körper etwas abgewickelt, wohl um so besser das Gleichgewicht halten zu können. Beim aufschwellenden Applaus winkt er nur zaghaft, seiner Vorstellung durch den Moderator hört er sitzend zu. Doch dann steht er auf, geht im gleichen Trippelschritt zum Tisch, richtet sich auf und liest stehend über 45 Minuten aus einem letzten Prosawerk Statt etwas oder der letzte Rank. Die Stimme ist die eines alten Mannes, ohne Zweifel, aber sie ist kräftig und ausdrucksstark. Und Walser, man muss es wiederholen, steht da und liest, unterstützt durch einige wenige Gesten mit dem rechten Arm. Vielleicht würde eine Videographie erweisen können, dass sich hinter der Bewegung der Hand, sei es, dass die Handfläche nach oben weist, sei es, dass sie eine leicht wegwischende Geste beschreibt, ein Bedeutungszusammenhang offenbart, der mit dem jeweils gesprochenen Text zusammenhängt. Mag sein, es ist auch bloßer Zufall. Jedenfalls liest da kein Neunzigjähriger, sondern eine zeitlos gewordene Sprachgestalt. Der ‚Roman‘ sei, wie er später sagt, eigentlich nur Sprache, und man kann ergänzen: der, der ihn liest, auch. Die Anstrengung, die damit verbunden sein mag, sie tritt nicht in Erscheinung. Und so erreicht Martin Walser eine ungeheuer große, die Aufmerksamkeit der Anwesenden absorbierende Präsenz. Einmal mehr: Man muss Martin Walser nicht mögen, man kann ihn für einen eitlen, selbstverliebten Altintellektuellen halten, aber die Art, wie er Literatur zur Sprache, zum Vortrag bringt, erzeugt  allergrößten Respekt, macht ihn unumgänglich.

Das anschließende Gespräch ist dem gegenüber eher fad. Man merkt, Walsers Gehör lässt nach, er muss häufiger nachfragen. Seine Antworten aber bezeugen – so abgesdroschen es klingen mag – einen wachen Geist. Beharrlich wehrt er sich gegen eine biographische Lesart von Statt etwas oder der letzte Rank. Es sei vielleicht ein Roman, aber ohne jedwede Romankonvention. Ein bisschen Werbung macht er auch, für sein neues Buch, eine Reden- und Essaysammlung der letzten knapp 60 Jahre mit dem Titel Ewig aktuell. Nach 90 Minuten ist Schluss, der Applaus ihm gewiss, als er abtritt wie er aufgetreten ist, mit Trippelschritten und kleinen ungelenken Gesten des Dankes. Und dann signiert er schließlich noch im Spiegelfoyer des Theaters geduldig die Bücher, die man ihm auf den Tisch legt.

Ein Neunzigerjähriger! Ihm sei zum heutigen Geburtstag alles Gute gewünscht.