Du betrachtest gerade Stephan Lohse: Ein fauler Gott

Stephan Lohse: Ein fauler Gott

Es sei seinem Gehirn „wurscht“, ob er etwas erfinde oder erinnere, es fühle sich gleich an. So kommentiert Stephan Lohse die Frage nach dem tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschied zwischen Erfindung und Erinnerung. Wem diese Unterscheidung gleichgültig ist, der schreibt keine Sachbücher, der schreibt auch keine (Auto-)Biographien, der verfasst Literatur. Im Falle von Stephan Lohses Debütroman „Ein fauler Gott“ ist das ein Glücksfall. Man möchte ihm wünschen, ihm mögen subintelligente Fragen erspart bleiben wie die, warum er sich mit seinem Erstling Zeit gelassen und erst mit über fünfzig solche Prosa veröffentlicht habe, oder jene, die hinter der Widmung des Romans an die eigene Mutter dann doch einen autobiographischen Hintergrund vermutet. Alles uninteressant, geradezu voyeurhaft; Blickversteller für die eigentliche Geschichte.

Die hat es in sich, beginnt mit der maximal größten Privatkatastrophe, dem Tod eines Kindes, des Bruders, des Sohnes. In dieser Reihenfolge.

Ben ist krank, ohne wirklich krank zu sein. Der Platz hinter seiner Nase ist durchs Weinen gewachsen und stößt von innen gegen seine Augen. Eigentlich müsste er aufstehen. Doch er traut sich nicht. Gestern ist sein Bruder gestorben. Ab heute ist Ben ein Einzelkind und mit Mami allein. Sein Bruder hieß Jonas. Er war acht und in der Dritten, und Ben hat ihn Piepmanscher genannt. Wie sein Bruder jetzt heißt, weiß Ben nicht, die Seelen haben lateinische Namen.
Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas‘ Mutter. Was mit Jonas‘ Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.

Stephan Lohse erzählt die Geschichte dieses Verlustes und der Trauer. Er reduziert sie dabei auf zwei Perspektiven, die ein personaler Erzähler über rund ein Jahr hinweg begleitet, die Bens und die der Mutter Ruth. Dass zuerst die Welt des Kindes vorgestellt und erzählerisch entfaltet wird, dass sich der Erzähler erst auf Seite 23 zum ersten Mal in die Perspektive Ruths begibt, dass im Roman insgesamt die Geschichte zu rund Zweidritteln aus der Perspektive Bens und nur zu einem Drittel aus der Perspektive der Mutter erzählt wird, ist ein kluger und sensibler erzählerischer Schachzug. Denn der Leser ist mit dem Schrecklichen schon vertraut, aber gefiltert durch die Sichtweise eines Elfjährigen, der in seiner Naivität (oder auch nur scheinbaren Naivität) das Erzählte für den Leser dann doch wieder in eine Distanz rückt, die die Dinge erträglicher macht. Die Konfrontation mit den Bewusstseinsverhältnissen Ruths wird vorbereitet, abgedämpft und trotzdem in keiner Weise klein geredet oder verharmlost. Man ist nah dran an der Trauer der Figuren und trotzdem gleichzeitig so weit weg, dass man eben nicht – siehe oben – zum Voyeur wird.

Jonas‘ Tod verschärft eine ohnehin schwierige Lebenslage. Denn Ruth ist seit einem Jahr geschieden, lebt mit ihren beiden Söhnen, jetzt nur noch mit Ben, in einer Reihenhaussiedlung irgendwo wohl an der Peripherie von Hamburg. Der Milieuhintergrund scheint kleinstädtisch geprägt, aber dennoch muss man einen recht weiten Weg zum Friedhof zurücklegen, wo Jonas beerdigt wird. Der Vater der Kinder, ein Ingenieur, erscheint bloß noch als schemenhafte Figur, zeigt sich am Tod und an der Organisation des Begräbnisses seltsam unbeteiligt und wohnt ohnehin mit einer neuen Lebenspartnerin jetzt in der Nähe von Frankfurt. Auf den ersten Blick ist das Scheitern der Ehe aber kaum von Belang. All die Probleme, die man erwarten könnte, spielen im Erzählkontext vordergründig keine Rolle. Ruth und die Kinder scheinen finanziell abgesichert, Streitigkeiten und Konflikte, etwa ums Geld oder um das Sorgerecht, scheint es nicht zu geben. Es bisschen überraschend vielleicht, dass das so gar nicht zum Thema wird, erst recht wenn man bedenkt, dass der Roman in den Jahren 1972/73 spielt.

Als Pappi fragt, ob Ben sich über sein Geschwisterchen freue, sagt er, dass es einer Kartoffel egal sein könne, wie man sie zerteilt.

Dennoch verschärft die Trennung der Eltern die Situation, zum einen für Ruth, die als einsamer und in der Trauer immer noch mehr vereinsamender Mensch dargestellt wird, zum anderen für Ben auch. Als sein Vater ihm bei einem der seltenen Wochenendbesuche mitteilt, dass seine Lebensgefährtin ein Kind erwarte, bricht es aus Ben heraus. Das Bild von der zerteilten Kartoffel lässt für einen Moment erkennen, wie tief die Verletzungen sitzen, die die Trennung der Eltern ausgelöst hat, eine Verletzung, die der Junge offenbar allein dem Vater als Verursacher zuschreibt. Anderes erfährt der Leser zumindest nicht.

Bens Rolle ist schwierig. Er ist Scheidungskind, nunmehr Einzelkind, er fühlt sich mitverantwortlich am Tod seines Bruders und sorgt sich jetzt auch um seine Mutter, deren Trauer er sensibel wahrnimmt. Da ist außerdem der Alltag zu bewältigen, der für den Elfjährigen alterstypisch immer komplizierter wird. Sein Erfahrungsspektrum erweitert sich und reicht von der Freundschaft  zu Chrisse, einem Mitschüler, bis zur wachsenden Bewunderung für Karl Mays Old Shatterhand und seinem Verhältnis zu Winnetous Schwester Nscho-tschi, von der kindlichen Begeisterung für die Fernsehserie „Flipper“ bis zum ersten Zungenkuss, von der Bewunderung für die Bananenflanken des HSV-Linksverteidigers Manfred Kaltz und die Leistungen des mehrfachen Schwimm-Olympasiegers Mark Spitz bis zum Beinaheopfer eines sexuellen Missbrauchs durch einen verhaltensgestörten Nachbarjungen.

In dieses Gefühlsgemenge sickert die Trauer um den verstorbenen Bruder. Die Ursache für dessen Tod bleibt letztlich im Unklaren, Anzeichen und vage Äußerungen der Ärzte wie der Mutter, die Ben Jonas‘ Tod zu erklären versucht, deuten aber eine Meningitis als Todesursache an. Als Jonas im Schwimmbad zum ersten Mal krampfte, war Ben dabei gewesen und hatte die Rettungsbemühungen mitbekommen. Im Krankenhaus war er an der Seite seines Bruders, dem es zunächst besser zu gehen schien, der dann aber doch verstarb. Nach dessen Tod stellt er in seiner kindlichen Naivität umso dringlicher die Theodizee-Frage, die dem Roman nicht nur den Titel gibt, sondern die sich leitmotivisch durch den Roman zieht.

Gott ist eine Art Herr Behrends des Himmels, der die Seelen an ihren Armen packt, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äußersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Brüder zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich. Es gibt im Himmel mehr Tote als Lebende auf der Erde. Während Gott wie Herr Behrends, sein Sportlehrer, die Seelen machen ließ, weinte Mami und hatte zum Sprechen keine Luft mehr. Ben weinte auch. Er konnte nicht mehr aufhören.

Diese radikale Gotteskritik verändert sich im Laufe des Romans und ihr Wandel wird gegen Ende eine entscheidende Rolle spielen. Symptomatisch für die Entwicklung Bens ist sie ohnehin. Der Erzähler begleitet seine beiden Hauptfiguren über rund ein Jahr und hält dabei eine auffallend gegenläufige Wechselseitigkeit fest. Während Ben bei aller Unfassbarkeit, den der Tod seines Bruders mit sich bringt, in diesem Jahr zunehmend in den Alltag eines Elfjährigen zurückkehrt, der sich auf der Schwelle zwischen Kind und Jugendlichem befindet, zeichnet er Ruth als eine Frau, die sich immer hoffnungsloser in ihre Trauer verstrickt und sich immer schlechter in der Lage sieht, eine Lebensperspektive für sich zu entwickeln. Ihre Liebe zum verbliebenen Sohn Ben und ihre Trauer um den verstorbenen Jonas stürzen sie in eine immer offensichtlicher werdende Suizidgefährdung. Immer mehr erscheint ihr das Leben als „eine stete Folge gesichtsloser Tage“, aus deren Fortsetzung sie nicht herauskommt. Ihr auf einen möglichen Suizid hinauslaufendes Verhalten – es ist mehr ein Verhalten als ein bewusster Plan – wird schließlich auch zu einem zentralen Handlungsmoment, welches den Roman vorantreibt und an sein Ende führt, der – so viel darf verraten werden – nicht mit einer Selbsttötung endet.

Es war die Verlagsankündigung, die mich auf den Roman aufmerksam gemacht hatte. Die Geschichte eines Gleichaltrigen zu Beginn der siebziger Jahre, das war es doch, was mich interessierte, diese eher unterschwellige Sehnsucht, sein eigenes Leben erzählt zu bekommen. Wäre das die Leseperspektive geblieben, ich wäre vielleicht enttäuscht worden. Mir kam beim Lesen der elfjährige Ben Schrader  spontan doch etwas zu kindlich-naiv vor. Er dachte mir zu bildlich, zu simpel. Aber ich fürchte, der Maßstab meiner Annahme war ein idealisiertes Bild auf das eigene Selbst, das man sich in der Erinnerung lebenskluger, reflektierter und den damaligen Weltläuften gegenüber offener vorstellt als es tatsächlich war. Nein, wenn ich ehrlich bin, fanden wohl Vietnam und Watergate, Baader-Meinhoff und Grundlagenvertrag bei mir ebenso wenig Aufmerksamkeit wie bei der jugendlichen Hauptfigur des Romans. Und Ruth, seine Mutter, war ohnehin viel zu sehr in ihrer Trauer verstrickt, als dass sie bewusst hätte die durchaus ereignisreichen Monate dieser Zeit mitbekommen können. Wenn ich mir darüber hinaus gewünscht hätte, dass eine Figur wie dieser schrullige Herr Gäbler, der in seinem Garten ein Autowrack stehen hat und mit den Jungen darin Phantasiefahrten unternimmt, noch stärker ausgestaltet worden wäre, dann ist es genau das: ein Wunsch, keine Kritik.


Stephan Lohse: Ein fauler Gott. Roman. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2017 (22.- €).

Lesung Stephans Lohses aus dem Roman