Pieter Steinz: Der Sinn des Lesens

Pieter Steniz, Lesen

Eines Tages geschieht das vielleicht Unvermeidliche. An den an einer seltenen, unheilbaren Krankheit leidenden Mann, der eine öffentlich bekannte Person ist, tritt die Mitarbeiterin einer Stiftung heran, die sich zum Ziel gesetzt hat, diese Krankheit stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das Anliegen ist ehrenwert, hängen an der Publicity im Regelfall doch Spenden und damit dann auch wieder Fördergelder für die weitere Erforschung der Krankheit und ihrer Therapie. Die Frau bittet darum, der Kranke möge doch an einer Plakataktion teilnehmen. Sein Konterfei solle nach seinem Tod an allen Wartehäuschen im Land plakatiert werden mit dem Slogan „Kämpf du für mich weiter“. Selbstironisch stellt der Erkrankte zwar fest, er sei eitel genug sich vorstellen zu können, mit seinem Gesicht in allen Bahnhöfen des Landes zu hängen, lehnt aber dennoch die an ihn herangetragene Bitte ab. Nicht nur aus Rücksicht auf seine Angehörigen, insbesondere seine Frau und seine Kinder, die jedesmal einen Schock bekämen, wenn sie auf einem Bahnsteig stünden, sondern auch weil er sich nicht den „mundgerechten Klischees und unangebrachten Metaphern der Marketingexperten“ anpassen wolle. Denn damit sei der Krankheit nicht beizukommen.

So blieb uns die Werbeaktion erspart. Dafür haben wir das Buch Der Sinn des Lesens, ein vielleicht irreführender Titel. Im Original lautet er Lezen mit ALS. Literatuur als levensbehoefte, „Lesen mit ALS. Literatur als Lebensbedürfnis“. Sein Autor: Pieter Steinz.

Als das Buch 2015 in den Niederlanden erschien, war Pieter Steinz seit zwei Jahren an Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) erkrankt. Dabei handelt es sich um eine immer weiter fortschreitende Erkrankung des motorischen Nervensystems, die je nach Verlauf nach drei bis fünf Jahren zum Tod führt. Eine Sonderform ist die chronisch juvenile ALS, die eine deutlich längere Lebenserwartung möglich macht. Der bekannteste, an dieser juvenilen Form Erkrankte ist wahrscheinlich Stephen Hawking. Mit seiner Popularität ist die Krankeit stärker in die öffentliche Wahrnehmung gerückt.  Aufmerksamkeit erhielt sie auch noch einmal durch die sogenannte „Ice Bucket Challenge“, bei dem sich Menschen mit einem Eimer Eiswasser übergossen, das Ganze aufzeichneten, ins Internet stellten und damit auch Geld sammelten.

Pieter Steinz ist einen anderen Weg gegangen. Er würdigt die Literatur und setzt sie in Bezug zu seiner Erkrankung, und das in einer essayistischen Form, die selbst wieder dem Literarischen nahe kommt. Seine Berufsbiographie ist hochspannend und zeigt drei wesentliche Etappen. Von 1986 bis 1990 lehrte der 1963 geborene Autor „Geschichte des klassischen Altertums“ an der Universität von Amsterdam, wurde anschließend – und zwar ohne eine journalistische Grundausbildung zu haben – Redakteur beim „NRC Handelsblad“, einer liberalen, überregionalen Abendzeitung in den Niederlanden. Dort avancierte er schließlich zum Chef der Literaturbeilage „Boeken“. Im Februar 2012 verließ Steinz die Zeitung und wurde Direktor des „Nederlands Letterenfonds“, einer staatlichen Stiftung, die die niederländische Literatur im In- und Ausland fördert. Dieses Amt bekleidete er bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden. Daneben und zugleich eng verbunden mit seinen Tätigkeiten schrieb er eine Reihe von Essays zu literarischen und kulturellen Fragen.

Steinz‘ spannender beruflicher Werdegang erscheint weniger durch solch offensichtlich einschneidende Wechsel geprägt, wenn man die Klammer sieht, die all seine Tätigkeiten zusammenhält. Diese Klammer sind die Bücher, ist die Literatur. Seine insgesamt 52 Essays im vorliegenden Band erschienen in weithin regelmäßigen, aber aufgrund der fortschreitenden Erkrankung immer größer werdenden Abständen zunächst in seiner ‚Hauszeitung‘ „NRC Handelsblad“. Sie erzählen, welchen Stellenwert Literatur für ihn hat. Im Vorwort der deutschen Ausgabe gibt er darüber selbst Auskunft:

Für mich waren meine kleinen Essays in erster Linie ein guter Grund, um noch einmal eine Reihe meiner Lieblingsbücher lesen zu können. Außerdem bot das Schreiben eine wunderbare Möglichkeit, meinen körperlichen Verfall und den dazugehörigen Marsch durch die medizinischen Institutionen mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Das Buch, das so entstanden ist, gibt vielleicht keine definitive Antwort auf die Frage, ob Literatur in schwierigen Situaionen Trost bieten kann, für mich hat sich auf jeden Fall erwiesen, dass zumindest das Schreiben über Literatur sehr tröstlich ist.

Steinz hat Platons Phaidon wieder in die Hand genommen, um über den Tod nachzudenken und festzustellen, Sokrates‘ Tod ähnele in seinem überlieferten Ablauf „ein wenig der Turboversion des durchschnittlichen Verlaufs von ALS: Zuerst verliert man die Kontrolle über die Arme und Beine, und zum Schluss stirbt man, weil die Atemmuskulatur gelähmt wird“. Er reflektiert mit Orwells 1984 den Umgang mit Schmerzen. Die Wiederlektüre von Rabelais‘ Gargantua und Pantagruel lässt ihn über die eigenen wachsenden Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme nachdenken. Mit Hesses Narziß und Goldmund spürt er den tatsächlichen oder vermeintlichen Tugenden nach, die ihm die Krankheit aufbürdet. Er tut das fast immer mit einer gehörigen Portion Selbstironie, einer Ironie, die den schmalen Grat zum Sarkasmus oder zum platten Galgenhumor nie überschreitet. Das gelingt ihm in wirklich jedem seiner 52 Essays, die vor allem Werke aus der antiken, niederländischen, angelsächsischen und deutschsprachigen Literatur Revue passieren lassen. Als Leser ist man fasziniert und erlebt zugleich mit, welchen Stellenwert Literatur im Leben haben kann, welches Potenzial sie besitzt, Sichtweisen zu öffnen, die ansonsten vielleicht, wenn nicht gar wahrscheinlich verschlossen blieben. In dieser Form ist Literatur ohne Zweifel ein „Lebensbedürfnis“. Und obwohl Steinz im indirekten Protokoll seines Krankheitsverlaufs immer nüchtern bleibt, es schafft, jede Form des Selbstmitleids, sollte es sie gegeben haben, aus den Texten herauszulassen, verfolgt man den körperlichen Verfall dieses Mannes als Leser mit immer größer werdender Beklemmung. So ist das Buch dann doch ein erschütterndes Dokument dieser Krankheit, gegen die es bis heute keine wirksame, auf Heilung abzielende Therapie gibt. Gerade das macht dieses Buch so lesenswert, so – ich brauche dieses Wort recht selten – wunderbar, diese Verschränkung von ungeschminkter Lebenssicht mit einem Hohelied auf die Literatur.

Am 26. August 2016 erlag Pieter Steinz den Folgen seiner Krankheit.


Pieter Steinz: Der Sinn des Lesens. Aus dem Niederländischen übersetzt von Gerd Busse. Mit einem Nachwort von A.F.Th. van der Heijden. – Stuttgart: Reclam 2017 (11,95 €).

Ergänzung

Ärgerlicher Weise war das Buch einige Zeit nur als E-Book erhältlich. Ab Juli 2017 bietet der Reclam-Verlag nun auch eine preiswerte Taschenbuchausgabe an.  In diversen Online-Antiquariaten ist es aber auch noch als Hardcover erhältlich (ISBN: 978-3-150-11075-1).

5 Kommentare zu „Pieter Steinz: Der Sinn des Lesens“

  1. Das ist ja interessant! Das Buch hat mir schon Gerd Busse, der Übersetzer des Mammutwerks „Das Büro“ empfohlen. Gut, dass ich nun noch einmal eine Erinnerung bekomme. Zum Glück hat es meine wohlsortierte Bibliothek um die Ecke.
    Viele Grüße!

  2. Lieber Daniel,

    Gerd Busse, der Übersetzer dieses Werks ist mein Nachbar und ihm verdanke ich nicht nur dieses wunderbare Buch, sondern auch ein bisschen etwas zwischen den Zeilen. Deshalb ist mir Pieter Steins Tod wirklich nah gegangen und sein Buch steht nicht in meinem Bücherregal, sondern es liegt, sodass ich es immer wieder ansehen kann.

    Liebe Grüße

    Nisnis

  3. Durch Anna Buchposts heutige Besprechung bin ich auch auf Deinen Text gestoßen – den ich aus irgendwelchen dubiosen (Osterfeien?) Gründen verpasst habe. Werde ich also gleich mal den Online-Antiquariaten einen Besuch abstatten, denn was Ihr schreibt über das Buch, das hört sich sehr lesens- und nachdenkenswert an.
    Viele Grüße, Claudia

  4. Pingback: 2017 im Rückspiegel - Peter liest ...

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