Henning Mankell: Treibsand

Am 05. Oktober 2015 starb Henning Mankell in seinem Haus in der Nähe von Göteborg in der Folge seines Krebsleidens, das sein Leben seit mittlerweile fast drei Jahren prägte. Ziemlich genau eine Woche vorher war sein letztes zu Lebzeiten fertiggstelltes Buch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erschienen, das in Schweden schon 2014 veröffentlicht worden war. Eine Vielzahl der insgesamt 68 Einzeltexte (67 Kapitel und 1 Epilog) waren wohl schon vor seinem Krebsbefund entstanden oder skizziert, die Gesamtkonzeption aber entwickelte Mankell im Zeichen seiner unheilbaren Erkrankung. Sie bildet die Achse und prägt zugleich die Atmosphäre, die das Buch von Anfang bis Ende durchzieht.

Heute, da ich dies schreibe, am 18. Juni, kann man die Zeit, die seitdem vergangen ist, als lang und kurz zugleich beschreiben. Ich kann keinen Punkt setzen, weder durch einen tödlichen Ausgang, noch durch eine vollständige Genesung. Ich befinde mich mitten im Prozess. Ein endgültiges Fazit gibt es nicht.
Aber das habe ich durchgemacht und erlebt. Die Erzählung hat kein Ende. Sie findet statt.
Hiervon handelt dieses Buch. Von meinem Leben. Dem, das war, und dem, das ist.

Und am Ende nach rund 380 Seiten heißt es:

Unsere eigentliche Familie ist unendlich. Auch wenn wir nicht einmal mehr wissen, wem wir für einen schwindelerregend kurzen Augenblick begegnet sind.

Wer nun aber eine Art Autobiographie erwartet, wird enttäuscht werden. Man erfährt erstaunlich wenig über den Erfolgsschriftsteller Mankell, kaum etwas über den Krimiautor und den Schöpfer der Figur, der er seinen Weltruhm verdankt: Kurt Wallander. Aber man erfährt Einiges über die Wege, die Mankell zu seinem Schreiben führten. Seine Pariser Zeit in den siebziger Jahren, seine Arbeiten als Theaterregisseur und als Intendant sowohl in Schweden als auch später in Mozambique werden in einer Vielzahl von Episoden beleuchtet. Sie bleiben dabei nahezu immer eingebettet in eine alles umspannende Grundfrage, nämlich die nach den Umständen und Bedingungen des eigenen Menschseins. Der Untertitel seines Buches „Was es heißt, ein Mensch zu sein“ gibt die Denkrichtung aller Texte vor. Das hätte in eine allzu hohe, mit Pathos übersättigte Tonlage einmünden können, es hätte angesichts der eigenen schweren, ja unheilbaren Erkrankung larmoyant werden können. Nichts davon ist der Fall.

Es war ein letztlich glimpflich verlaufener Unfall kurz vor Weihnachten 2013 gewesen, der zur Entdeckung der Krebserkrankung geführt hatte. Mankell schildert den Besuch in einer kleinen Kirche in Släp an der schwedischen Westküste südlich von Göteborg wenige Tage nach diesem Unfall, aber noch bevor seine Krankheit entdeckt wurde. Dort sucht er ein Bild auf, das ihm schon seit geraumer Zeit bekannt ist, aber er geht nun hin aus einem ihm deutlich werdenden Bedürfnis heraus. Dieses Bild, ein Ölgemälde aus dem 18. Jahrhundert, zeigt den damaligen Ortspastor Gustav Fredrik Hjortberg und seine gesamte Familie, auch die mittlerweile verstorbenen Kindern, sechs an der Zahl. Mankell beschreibt das Bild sorgfältig. Eines fasziniert ihn daran ganz besonders, nämlich „der Unwille der toten Kinder zu verschwinden“. Dieses Gemälde hat für ihn eine ganz besondere Bedeutung, denn, so hält er fest, er kenne „kein anderes, stärkeres Bild von der wunderbaren Hartnäckigkeit des Lebens“. Als Leser hat man die Möglichkeit, sich dieses Bild, das mit anderen Bildern und Kunstwerken im Mittelteil des Buches abgedruckt ist, selbst genauer zu betrachten. Dabei kann man feststellen, dass man zu Mankells Schlussfolgerungen kommen kann, aber nicht zwangsläufig muss. Man kann aus dem Bild auch durchaus weniger zuversichtliche Schlussfolgerungen ableiten. Umso deutlicher aber wird Mankells eigene Sichtweise. Ihm gelingt es, aus der Auseinandersetzung mit den künstlerischen und historischen Zeugnissen sein eigenes Eingebundensein in das Leben abzuleiten, mag es auch nicht das eigene sein. Das schafft ihm einen Trost, der die eigene Vergänglichkeit aushaltbar macht. Dazu befragt er Kunst, Literatur, Geschichte und Archäologie und findet immer wieder Zeugnisse, in denen Leben und Tod und deren unhintergehbares Ineinanderverschränktsein deutlich werden.

Bei dieser Spurensuche begegnet der Leser auch dem politisch engagierten und den Entwicklungen unserer Zivilisation skeptisch folgendem Zeitgenossen. So sehr Mankell den Lebensfäden in den Zeugnissen der Vergangenheit nachspürt, so sehr sorgt er sich auch um den Umstand, ob diese Fäden nicht in die Zukunft hinein abgerissen werden könnten. So insistiert er in leitmotivisch angelegten Gedankenschleifen auf die Probleme, die die Atomenergie erzeugt und sich aus seiner Sicht in der Frage nach  Atommüllendlagern zum Ausdruck bringt, die mindestens 100.000 Jahre den strahlenden Abfall schützend verbergen sollen. Für ihn ist es nicht nur ein Beleg für die Hybris der jetzt Lebenden vor den zukünftigen Generationen, sondern auch für die Gefahr, die kulturellen Spuren dessen, was Leben ist, dadurch auszulöschen, dass man statt auf Erinnerung auf Vergessen setzen muss.

Der Mensch hat immer gelebt, um gute Erinnerungen zu schaffen oder Warnungen auszusprechen vor dem, was gefährlich und böse gewesen ist.
Plötzlich leben wir in einer Zivilisation, in der wir keine Erinnerungen schaffen. Wir leben, um Vergessen zu hinterlassen.
Was wird am Ende bleiben? Eine Zeit ohne Erinnerungen?

Eine Zeit also, in der unmöglich sein wird, was er in „Treibsand“ selbst schafft, eine Erinnerungsarbeit an den Kulturgütern und am eigenen Leben, die ihm das Bewusstsein von der eigenen Endlichkeit aushaltbar und erträglich macht. Sie erlaubt es, dem Treibsand, der alles mit großer Sogkraft ansaugt und zum Verschwinden bringt, dieser Todesmetapher, etwas Widerständiges entgegenzusetzen. Dieses Widerständige bleibt, nicht nur, aber auch mit diesem Buch von Henning Mankell, auch wenn der Autor selbst nun gegangen ist.


Henning Mankell: Treibsand. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. – Wien: Paul Zsolnay Verlag 2015 (24,90 €)

 

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