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Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

Auf seiner Facebook-Seite hat Peter Stamm ein Album angelegt mit Fotos von Hotelzimmern, in denen er sich während seiner zahrleichen Lesereisen aufgehalten hat. Eines dieser Fotos zeigt ihn in einem Aachener Hotel, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern kann. Er steht vor einem Spiegel im Badezimmer, an dessen gegenüberliegender Wand ebenfalls ein Spiegel angebracht ist, so dass beim Fotografieren der Eindruck eines unendlichen Spiegelraums entsteht. An dieses Foto musste ich spontan denken, als ich seinen neuen Roman Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt gelesen habe.

Peter Stamms Figuren sind durchweg „Gänger“. Erleben, Erfahrung, Reflexion entsteht bei ihnen durch Bewegung. Unentwegt gehen sie. Sie sind Spaziergänger durch Städte, Wanderer durch Landschaften und im neuen Roman als Doppelgänger auch Wiedergänger durch die Zeit. Im Erzählkosmos des Schweizer Autors ist die Bewegung ein konstanter Topos, und wenn er immer wieder in Essays, Reden und Interviews betont, er wisse beim Beginn des Schreibens nie, wohin es sich entwickele, so weist er auch hier auf Bewegungsmomente, die offensichtlich für ihn eine poetologische Grundgröße bilden.

Im neuen Roman macht ein alternder Schriftsteller, Christoph, lange abendliche oder nächtliche Spaziergänge durch Stockholm, gemeinsam mit einer 20 Jahre jüngeren Frau namens Lena. Die wiederum lebt mit Chris zusammen, der gerade an seinem ersten Roman arbeitet. Die junge Frau erzählt aus ihrem gemeinsamen Leben, auf das Christoph reagiert als sei es ihm bekannt. So wird dann auch aus seiner eigenen Lebensgeschichte schnell deutlich, dass die beiden jungen Leute jetzt das gleiche Leben wieder führen, dass er vor rund 15 Jahren mit seiner damaligen Freundin Magdalena geführt hatte. Lena und Chris erscheinen zeitversetzt als Doppelgänger von Magdalena und Christoph. Immer wieder und immer öfter vermischen sich jedoch auch die Zeitebenen, so dass dem Leser gar nicht mehr klar ist, ob jetzt nicht doch Christoph mit Lena oder Chris mit Magdalena das Gespräch führt. Es is in diesen Momenten, als würde Zeit sich krümmen bis nur noch Raum übrig bleibt, Raum, in dem erzählt wird.

An dieser hochkomplexen Handlungs- und Figurenkonstellation, die trotzdem immer eher kammerspielartig bleibt, lassen sich Lebensfragen von existenzieller Bedeutung anbinden. Nicht umsonst bildet eine Aussage aus Becketts Ein-Personen-Stück „Das letzte Band“ das Motto des Romans.

Wir lagen bewegungslos da. Aber unter uns bewegte sich alles und bewegte uns, sanft, auf und nieder und von einer Seite zur anderen.

Was aber ist es im Roman, was die Existenz bewegt wie ein Kleinkind, das in der Wiege liegt und die Ursache der Schaukelbewegung nicht zu erkennen vermag? Man rätselt als Leser, kann nur sagen: zu wenig jedenfalls, als dass die Bereitschaft entstünde, vom Erzählten überzeugt zu sein. Denn was geschieht? Ein  Schriftsteller schreibt einen Roman über einen Schriftsteller, der einen Roman geschrieben hat und sich selbst als Schriftsteller begegnet, der einen Roman schreibt. Man mag die Plotkonstruktion artifiziell nennen, man kann sie aber auch als überkonstruiert wahrnehmen. Man mag auf das Selbstreferentielle des Textes hinweisen und Traditionen von der Romantik bis zur Postmoderne dafür geltend machen, die sich im Roman manifestieren. Man kann aber ebenso darlegen, dass das Selbstbezügliche des Textes nicht grundsätzlich dessen Reflexionstiefe vergrößert. Man mag, weil Stamms erster großer Erfolg Agnes vor 20 (!) Jahren und seine Thematik als Hintergrundstrahlung immer wieder hineinleuchtet in Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt, Intertextualitätsbezüge herstellen, man kann aber auch den Eindruck von unzureichend Aufgewärmtem bekommen. Entdeckt man bei der Betrachtung des Bauchnabels nur Flusen, so macht das diesen Bauchnabel nicht besonders.

Es gibt wohl kaum einen deutschsprachigen Schriftsteller, der scheinbar leichte oder leicht dahin gesagte Sätze so mit Bedeutungspotenzial aufzuladen versteht wie Peter Stamm. Das macht die bewundernswerte Tiefe seiner gelungenen Texte aus. In Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt verweisen solche Sätze aber auf zu wenig, als dass sie mit Welt angereichert werden könnten; sie verlassen das Erzähllabor nie. Man muss nicht in die im letzten Jahr kurz aufgeflammte Lüscher-Stamm-Debatte um das politische Engagement und die Rolle des Schriftstellers als Intellektuellen einsteigen, um darauf hinzuweisen, dass der neue Roman zu weltvergessen sei, als dass er beim Leser nachhaltig etwas bewegen könne. Der Roman hält bei weitem nicht das, was das Beckett-Motto eingangs versprach, sondern bleibt, wie das Facebook-Foto, ein Bild im Bild im Bild im Bild … – und trotzdem nur Oberfläche. Nein, er mag zwar die einen oder anderen Fragen bei der einen Leserin oder dem anderen Leser aufwerfen, aber die bewegen sich auf leerer Fläche nur im Kreis. Ihre Antworten weisen auf das, was der Titel des Romans leider schon befürchten lässt – auf wohl formulierten Kitsch.


Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Roman. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2018 (20.- €)