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Milena Michiko Flašar: Herr Katō spielt Familie

„Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich.“

Das Zitat ist Christa Wolfs Essay Lesen und Schreiben entnommen, den sie 1972 erstmalig veröffentlichte. Darin geht sie der Frage nach, welche Bedeutung Literatur für ihr Leben habe, und macht ein Gedankenexperiment. Sie stellt sich vor, wer sie sei, wenn sie all die Bücher nicht gelesen hätte, die sie im Laufe ihres Lebens kennenlernen durfte. Sie stellt fest, ihr würde es an Welterfahrung fehlen, an Phantasie, an moralischem Bewusstsein, sie hätte ohne Zweifel niemals begonnen, selbst zu schreiben, kurz: Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. Die Anführungszeichen werden verzichtbar, die Schlussfolgerungen nimmt man für sich an, weil man spürt, dass sie stimmen.

Doch wie geschieht das, wie wirkt Literatur? Christa Wolf wählte in ihrem Essay den eher pauschalen Zugriff, sprach von „den“ Märchen und „den“ Sagen, nannte Autorennamen (Storm, Fontane) und verwies auf große Textkonvolute, vor allem auf Romane. Das ist stimmig, erst recht, wenn man über die Wirkung von Literatur im Subtraktionsgang nachdenkt: Was fehlte, wenn ich etwas nicht gelesen hätte? Diese Perspektive drückt sich aber ein wenig um die Frage herum, was das einzelne Buch, was der gerade gelesene Text an Wirkung erzeugen kann. Was, wenn ich spüre, dass das, was ich gerade lese, mich in meinem Hiersein in der Welt verändert?

Ein solches Empfinden kann sich einstellen am gesamten Text, egal ob Kurzgeschichte, Gedicht oder Roman. Er öffnet mir nahezu plötzlich den Blick auf eine Figur, auf einen Lebenszusammenhang, auf eine einzelne Wahrnehmung, auch – und nicht einmal selten – auf Dünnbödigkeiten und Abgründe, die ich vorher nicht gesehen habe, an denen ich spontan merke, dass sie etwas mit mir zu tun haben. Nicht selten sind es genau diese Texte, die mich fortan in meinem Leben begleiten werden.

Eine solche Wirkung kann aber auch von einem einzigen Satz ausgehen. Da ist es nicht die entworfene Romanwelt, der Plot oder die Sprache, da ist es die einzelne Aussage, vielleicht nur in einer nebenher hingeworfenen Bemerkung, die aber eine Fenster aufstößt und einen Blick freigibt, der zuvor verschlossen war. Ohne appellative Absicht wird klar: Schau hin, hier wird irgendwie auch dein Leben verhandelt. „Alles Asche, und doch gebunden.“

Vielleicht wäre es einmal interessant, die Texte oder Aussagen zu benennen, die auf diese Weise wirksam wurden.  Aber darum soll es hier nicht gehen. Vielmehr geht es um eine dritte Weise, in der Literatur hineingreift ins Leserleben und daran rüttelt. Es ist die einzelne Szene, die Textpassage, das Kapitel, das – warum auch immer – ganz, ganz tief in die eigene Befindlichkeit – oder wollen wir es Seele nennen? – vordringt. Man liest und merkt, ohne es genau benennen zu können: jetzt verändert sich etwas bei mir.

Von einer solchen Textpassage in Milena Michiko Flašars Herr Katō spielt Familie soll im Folgenden insbesondere die Rede sein.

As Time goes by

Am Ende des zweiten Kapitels tanzen sie miteinander, Herr Katō, der Rentner, und Mie, seine, nennen wir sie Projektmanagerin. Sie, deren richtigen Namen wir nie erfahren, ist 30 Jahre alt, er, seit kurzem erst in den Ruhestand entlassen, wohl gut doppelt so alt. Sie haben die Hochzeitsfeierlichkeiten, bei der sie gerade ihr Projekt durchgeführt haben, verlassen und befinden sich in einer Bar. Beide sitzen in einem Clubsessel, augenscheinlich lässig, offensichtlich müde, Whiskey trinkend, die Beine ausgestreckt, so dass sein linker und ihr rechter Fuß sich leicht berühren. Man könne, so geht es Herrn Katō kurz durch den Kopf, meinen, sie sei seine Geliebte, die wisse, dass sie aus dieser Art Verhältnis nicht herauskomme und deshalb das Ende absehbar sei.

Mie teilt Herrn Katō mit, dass sie aussteigt aus dem Geschäft, für das sie den Rentner erst vor kurzem hat gewinnen können, ein Geschäft, auf dessen Eigenart noch einzugehen sein wird. Sie will ihre Entscheidung wohl begründen und erzählt aus ihrem Leben. Von ihrem Ehemann, der sie und den sie liebt, davon, dass sie nur an bestimmten zwei Wochentag Sex haben, weil man ansonsten zu müde und zu erschöpft sei, von der Klopapierrolle unter dem Bett, mit der man die Spuren wegwischen könne, von der geschützten Vertrautheit, die ihr dieses Leben mit ihrem Mann gibt, und seiner Monotonie, von ihrem Wunsch, wieder Kontakt zu ihren Eltern zu finden. Das alles erzählt sie, und der Leser erfährt es vor dem Hintergrund der Lebenszusammenhänge Herrn Katōs, die er bis dahin kennengelernt hat. Auch ihn haben die Projekte verändert. Einer der Durchführungsgrundsätze, auf deren Einhaltung gepocht wird, lautet: „Ich involviere mich und bleibe gleichzeitig draußen.“ Doch das gelingt schon nach kurzer Zeit immer schlechter.

Was sind das für Projekte? Mie vermittelt sogenannte Stand-Ins. Im Filmgeschäft ist ein Stand-In ein Double, ein Ersatzdarsteller, der für eine andere Person eine Aufgabe übernimmt. Man braucht sie unter anderem für Stell- oder Lichtproben oder für gefährliche Szenen auch als Stuntmen. Hier aber fungieren die Personen als Stand-Ins im realen Leben. Sie ersetzen Personen, die aus verschiedenen Gründen abwesend sind, und spielen für eine begrenzte Zeit dabei deren Rolle.

Da ist der Mischlingsjunge, der sich sehnlichst wünscht, seinen Großvater kennenzulernen, der wiederum jeden Kontakt mit Kind und Enkelkind ablehnt, weil der Junge kein „reiner“ Japaner ist. Herr Katōs erster Auftrag besteht nun darin, in einem seitens der Eltern gebuchten und arrangierten Besuch in die Rolle des Großvaters zu schlüpfen und einen Nachmittag mit dem Enkelsohn zu verbringen. Man sieht, es sind durchweg traurige Zusammenhänge, die zu solchen Projekten führen, irgendwo sind sie absurd, aber sie stellen ein ausgesprochen lukratives Geschäftsmodell dar. Und – wie zu fürchten ist – wohl nicht nur in Japan, wo der Roman spielt.

So begleitet der Leser Herrn Katō bei insgesamt drei solcher Projekte und beobachtet, dass ihm die angesprochene Rollendistanz immer mehr verlorengeht. Allerdings bemerkt er selbst das nur ansatzweise. So beim letzten Auftritt auf der Hochzeitsfeier, wo er als Vorgesetzter des Bräutigam auftritt:

Seine Ansprache. Nichts Besonderes. Eine Lobrede auf einen seiner fähigsten Angestellten, den er nun in guten Händen wisse, was seiner Leistungsfähigkeit hoffentlich nicht im Weg stehen, sie im Gegenteil noch steigern werde. Und doch. Während er Satz um Satz vorträgt, im Blick das Brautpaar, das sich an den Händen hält, schon etwas müde, vor allem sie, die, auf dem Weg in den Festsaal kaum noch gehen konnte, die letzten Meter von ihm getragen wurde, da sie sich, wie es flüsternd die Runde machte, wenigstens heute in keinen Rollstuhl setzen mochte, beginnt er etwas zu empfinden, worauf er selbst bei der Hochzeit der eigenen Tochter vergeblich gewartet und was sich selbst damals trotz einiger Mühen, es aus sich herauszulocken, nicht eingestellt hat: was es bedeutet, das eigene Kind abzugeben, es einem anderen zu überlassen, ohne auch nur ein Zipfelchen von ihm zurückbehalten zu wollen. Und er spürt das Hemd, wie es sich um seinen Brustkorb spannt, spürt den Kragen, wie er seinen Hals umschließt, die Knöpfe und die Manschetten, wie sie ihn beschweren mit einem Gewicht, das sich in seiner Mitte sammelt, von dort aufsteigt, langsam als eine lächelnde Träne aus seinem Auge kommt. „Liebe Sakura“, sagt er, „es heißt: Ein Mann wird gemacht. Und dafür danke ich Ihnen im Namen der Firma, die Sie fortan als Ihre Familie betrachten dürfen.“ Keine Phrase. Er meint es ernst.

Ja, aus dem, was als Spiel begann, das die Ruhestandslangeweile vertreiben sollte, wird Ernst, aber ein Ernst, der etwas aufbricht, was vorher eingeschlossen war. Nicht mehr draußen zu bleiben, verschafft Katō den Antrieb, diese Rollen weiterspielen zu wollen. Dass das eine Illusion ist, ist eine Einsicht,die ihm Mie voraus ist.

Diese abweichenden Einsichten, die unterschiedlichen Perspektiven treffen hier im Gespräch an der Bar aufeinander. Gemeinsam ist ihnen der ausgesprochene Lakonismus, mit dem die Figuren auf ihr Leben blicken, die „lächelnden Tränen“. Da ist keine Sentimentalität, kein Kitsch – nur eine in Moll gestimmte Zuversicht, dass das Leben die Möglichkeit hat, in Ordnung zu sein. Dann tanzen sie, Mie und Herr Katō, fast bewegungslos zu „As Time goes by“.

Einmal drehen sie sich. Aber dann bleiben sie dabei: bei den kleinen Bewegungen, die sie nicht aus der Bahn werfen.

Das ist das Bild, das bleibt. Nach dem Gespräch, das bleibt. Und das Gefühl beim Lesen, das bleibt.

Ein Ehe- und Altersroman

Darauf, das sei ergänzt, beschränkt sich der Roman aber nicht.Denn die Stand-In-Episoden, die im Wesentlichen den zweiten Teil des Romans ausmachen, sind eingebettet in die Geschichte einer gealterten Ehe, die mit dem Ruhestand Herrn Katōs neu justiert werden muss. Dabei erscheint zu Beginn des Romans der Mann in seiner Hilflosigkeit zunächst als eine bemitleidenswerte Gestalt. Doch Milena Michiko Flašar versteht es erzählerisch ebenso geschickt wie behutsam, diesen Ersteindruck aufzubrechen und zu korrigieren. Schließlich kommt man nicht darum herum, Herrn Katō als egozentrischen alten Mann wahrzunehmen, dem seine Frau trotz großer Bemühungen wenig bis gar nichts recht machen kann. Man fragt sich geraume Zeit, wie sie diesen Mann ertragen kann. Doch auch das Negativbild eines Ehemanns ändert sich wieder, je mehr es Herrn Katō mit den Stand-Ins gelingt, seine eigene Rolle als Ehemann und Vater kritischer in den Blick zu nehmen. Am Ende kommt es, wenn auch nicht ohne Zusammenbruch, zum Neujustieren seiner Lebensverhältnisse. Der Roman hat ein versöhnliches Ende, einen tröstlichen Schluss.

Herr Katō spielt Familie ist ein bewegendes Stück Literatur, das erste grandiose Lesehighlight in diesem Jahr, ohne das ich gewiss nicht ich wäre.


Milena Michiko Flašar: Herr Katō spielt Familie. Roman. – Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2018 (20.- €).

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