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Theodor Fontane: Effi Briest

  1. Einführung
  2. Eine später Begegnung
  3. Frühe Uneindeutigkeiten
  4. Vor dem Gespräch
  5. Das Gespräch
  6. Was bleibt
  7. Nachlese

Mein Leben mit Innstetten

Meistens merkt man es ja nicht in dem Augenblick oder in der, relativ gesehen, kurzen Zeitspanne, in der ein Buch gelesen wird, sondern man bemerkt es erst später, dass ein literarischer Text, ein Roman, zu einem Lebensbuch geworden ist. Wahrscheinlich gehört mehr dazu als das einmalige Lesen, bevor man eine Ahnung davon gewinnt, dass einen dieses Buch, dieser Roman, nicht mehr loslassen wird.

Aber warum? Sind es einzelne Wörter, die nicht mehr aus dem Kopf wollen: die Briestsche „Gemütlichkeitsrangliste“, der Gießhüblersche „Ermutigungsspaziergang“ oder mehr noch die Wüllersdorfschen „Hülfskonstruktionen“? Sind es Sätze, die sich im Gedächtnis verhaken, die sich wie unter die Haut geratene Grannen an ihren Widerhaken immer weiter ins Fleisch treiben, selbst wenn an ihren Aussagegehalten nichts oder viel Fragwürdiges dran ist: das „weite Feld“ des alten Briest, seine platitüdenhafte Aussage „Weiber weiblich, Männer männlich“, oder doch lieber Innstettens, hohlen Patriotismus abwehrender Kommentar „In anderen Ländern hat man was anderes“, oder Effis sehr toxische Bemerkung über ihren geschiedenen Ehemann, er habe „viel Gutes in seiner Natur“ gehabt und sei „so edel“ gewesen, „wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist“? Sind es einzelne Figuren, die einen nicht mehr verlassen, die sich wie Schatten und Wiedergänger immer wieder bemerkbar machen: dann sicherlich nicht die Titelfigur des Romans, aber ebenso sicher der alte Briest in seiner bauernschlauen Hilflosigkeit, der Apotheker Gießhübler in seinem warmherzigen und unbeholfenem Bemühen um das Wohlergehen der Anderen, Rollo, die „Kreatur“, die uns ganz offensichtlich „über ist“? Oder Innstetten?

Innstetten? Ja, der. Aber er bleibt im Gedächtnis nicht zuerst als Figur, die man in ihrem gesamten Auftreten betrachtet von der Ersterwähnung im Eingangskapitel bis zum bitteren Ende. Schwinden will sie nicht als Teilnehmer an einem Gespräch, dessen Initiator freilich er selbst ist. Um zur Frage zurückzukommen, was es ist, was im Falle von Effi Briest an den Roman bindet, so ist es im Wesentlichen ein Auszug aus dem 27. Kapitel, an dem alles hängt, der dafür sorgt, dass ich wohl zu Lebzeiten meine Lektüre des Romans nicht werde abschließen können. Es ist das Gespräch zwischen Innstetten und Wüllersdorf, das zum Duell mit Crampas führt, und das keine Ruhe gibt, seit ich es zum ersten Mal lesen durfte.

Eine späte Begegnung

Wer einen perfekten Mord begehen will, möge doch dem Opfer nach erfolgreich ausgeführter Tat eine Ausgabe von Fontanes Effi Briest in die Hand drücken. Dann wüssten die Ermittler gleich, der oder die Tote sei an nichts anderem gestorben als an entsetzlicher Langeweile, und sie würden auf jedwede weitere Untersuchung verzichten. Diese Äußerung aus Schülermund ist zwar skurril zugespitzt. Aber schon eine flüchtige Internetrecherche zeigt schnell, dass sie exemplarisch ist für eine offenbar hochgradig leidvolle Leseerfahrung, die angehende Abiturientinnen und Abiturienten mit dem Roman hatten, und das, so scheint es bisweilen, von je her .

Vor diesem Hintergrund war es vielleicht ein Glück, dass meine eigenen schulischen Leseerfahrungen unbeeinflusst waren von Theodor Fontanes wohl bekanntestem Roman. Als Kind kannte ich den Herrn von Ribbeck auf Ribbeck, in der Zeit, in der wir in der Schule Balladen lasen, lernte ich „John Maynard“ auswendig. Irgendwann, ich war schon ein älterer Jugendlicher, stieß ich auf „Unterm Birnbaum“. Warum, weiß ich nicht mehr, sicher aber nicht in schulischen Zusammenhängen. Kurz gesagt: die ersten beiden Jahrzehnte meines Lebens blieben doch sehr fontanearm.

Es war in den frühen achtziger Jahren, als ich eine Vorlesung besuchte zum Roman des 19. Jahrhunderts. Mein Interesse galt damals nicht Fontane, sondern Gottfried Keller. „Der grüne Heinrich“ hätte ich wohl zu dieser Zeit als mein Lieblingsbuch bezeichnet. Was an diesem ‚Bildungsroman‘ (lassen wir die Bezeichnung mal so stehen) faszinierte, war wohl die Möglichkeit, die dem gerade Zwanzigjährigen noch verbliebenen pubertären Schlacken lesend erlebend abzuarbeiten. Dazu eigneten (und eignen) sich Fontanes Gesellschaftsromane nun einmal weniger. Ich musste schon ein deutliches Stück älter werden, um zu der Überzeugung zu kommen, Melusine sei besser als Judith.

Bei Lichte besehen war also Effi Briest tatsächlich mein Eintrittsbillett in die – darf man so sagen? – Fontanewelt. Mit Innstetten aber hätte man schnell fertig sein können, erst recht in einem Alter, in dem das Herz noch spürbar links schlug. Dieser Mann trat auf, so war man es gewillt zu lesen, als Prototyp eines sozial und moralisch erstarrten Preußentums, als Vertreter und Apologet einer überkommenen Gesellschaftsordnung, als Karrierist und wenn nötig Stiefellecker, als herzloser Chauvinist, Rigorist und Erziehungsdiktator, als Gefühlszwerg. Es gab andere, vorsichtiger abwägende, aber nur selten gegenläufige Lesarten, aber es gab sie nicht im Diskurs der genannten großen Vorlesung zum Roman des 19. Jahrhunderts. Innstetten war auf die Rolle des Unsympathen festgelegt, viel mehr ein Vorläufer des Modelluntertanen Diederich Heßling als ein jüngerer Zeitgenosse des altadligen Dubslav von Stechlin, der ein sehr sensibles Gespür dafür entwickelt hatte, dass das Verfallsdatum seines Standes erreicht, wenn nicht gar überschritten war.

Es war eine Lesart dieser Landrats-, später Ministerialratsfigur, die mir weithin eingeleuchtet hätte, die ich auch, wie gesagt, bereit war anzunehmen, wäre da nicht dieses Gespräch zwischen Innstetten und Wüllersdorf gewesen, das mich von Beginn an irritierte. Irgendwie passte das nicht ins Bild. Alles in mir rebellierte eigentlich gegen diesen Menschen, und doch konnte ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass an dem, was er da sagte, doch etwas dran war, vor allem an diesem „tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas“, das er doch zugleich bediente. Hätte es für ihn eine wirkliche Alternative gegeben? Ist die Logik, die sich aus der Abfolge von Reflexion und Handlung in und nach dem Gespräch ergibt, zwar fürchterlich und verabscheuungswürdig, aber unseren Tagen vollkommen fremd? Kann man ihm, sich selbst aus der Ferne moralisch aufrichtend, sein So-sein zum Vorwurf machen? Spricht Innstetten nicht über Zwänge, die, in anderem Kleid, heute wie damals wirkmächtig sind? Und weiter: Ist er letztlich nicht ebenso Prototyp des gebildeten, bürgerlichen, irgendwie liberalen Mitteleuropäers in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts wie Modellfigur eines preußischen Adligen am Ende des 19. Jahrhunderts. Und letztlich, aber alles andere als marginal: Was in mir ist Innstetten?

Antworten habe ich auch nach fast 40 Jahren Effi-Briest-Lektüre nicht, und nicht die Hoffnung, sie je abschließend zu bekommen. Aber Fragen, die nicht weniger, sondern mehr werden, Fragen, die, je naiver sie mir manchmal selbst erscheinen, immer öfter desto schwieriger zu beantworten sind. Sie zu ordnen und ihnen nachzugehen, ist Absicht der nachfolgenden Überlegungen.

Frühe Uneindeutigkeiten

Effi Briest (1896), Fontanes einziger Bestseller zu Lebzeiten, der in kurzer Zeit mehrere Auflagen erlebte, ist wohl so bekannt, dass auf eine Wiedergabe der Handlungszusammenhänge, sei sie auch so knapp, verzichtet werden kann. Schauen wir doch gleich auf das 27. Kapitel und die Entdeckung der Briefe, die Major Crampas an Effi geschrieben hatte und die es erlauben, auf einen zurückliegenden Ehebruch schließen zu lassen. Dass die Briefe entdeckt wurden, darf man wohl mit guten Gründen als Zufall bezeichnen. Während sich Effi noch zur Kur in Bad Ems befand, war Tochter Annie zu Hause beim Heraufstürmen der Treppe gestolpert, hingeschlagen und hatte sich beim Sturz eine Platzwunde zugezogen. Beim Suchen nach Verbandsmaterial wurde ein Nähtisch, der verschlossen war, aufgebrochen, beim vergeblichen Durchstöbern manches achtlos auf die Fensterbank gelegt, darunter eben auch die mit einem roten Seidenfaden umwickelten Briefe.

Aufmerksam wird Innstetten auf die Briefe erst, als er geraume Zeit später, nach dem Mittagessen mit seiner Tochter, sich anschickt, den Nähtisch wieder einräumen zu wollen. Warum Innstetten diese Arbeit nicht Johanna, dem Dienstmädchen, überlässt, was vielleicht eher zu zu erwarten wäre als seine eigene Aufräumtätigkeit, bleibt im Dunkeln. Ganz außergewöhnlich scheint das Verhalten nicht zu sein, denn es wird von keinem der Anwesenden ausdrücklich thematisiert. Mit einem „Lassen Sie nur liegen, ich räume das gleich auf“ hätte Johanna die Situation verändern können. Aber dass der Hausherr mithilft, scheint so ganz ungewöhnlich nicht – was auch immer man daraus schlussfolgern möchte.

Jedenfalls glaubt Innstetten bei einem zunächst flüchtigen Blick die Handschrift des Absenders wiederzuerkennen. Aber in dem Augenblick, in dem ihm bewusst wird, dass er Briefe von Crampas in seinen Händen hält, wird ihm offenbar im gleichen Moment klar, dass sie brisant sind „und in seinem Kopfe begann sich alles zu drehen“. Hatte Innstetten eine Ahnung, eine Befürchtung, die hier im Moment Gewissheit wird? Darüber schweigt sich der Roman aus. Es gibt keine Äußerungen Innstettens dazu, auch keine rückblickenden Erzählerkommentare, die eine solche Befürchtung andeuten. Dergleichen sucht man vergebens.

Eine Ausnahme könnte, noch in Kessin, der Streit zwischen Effi und ihrem Mann darstellen, am Morgen nach der Rückkehr vom Weihnachtsfest in der Oberförsterei, also nach dem Schlittenunfall am Schloon und Crampas‘ übergriffiger Annäherung an Effi. Der Streit zwischen dem Ehepaar entzündet sich zwar an diesem Vorfall, aber an keiner Stelle behauptet Innstetten etwas zu befürchten oder gar zu wissen, was er nicht wissen kann. Bei allem Versuch, seinen Standpunkt argumentativ zu begründen, zeigt er sich hier ausgesprochen emotional und bei Lichte besehen höchst eifersüchtig. Wohl deshalb ist dieser Streit das einzige Gespräch zwischen ihm und Effi, von dem man als Leser den Eindruck gewinnt, dass es nicht komplementär, sondern symmetrisch geführt wird. Von Ahnung oder Befürchtung aber auch hier keine Spur. Ohnehin muss man festhalten, dass die gemeinsamen Ausritte von Crampas und Effi ja mit seinem Wissen stattfanden. Man kann es drehen und wenden, die Entdeckung der Briefe treffen Innstetten vollkommen unvorbereitet.

Vor dem Gespräch

Immerhin aber habe er sofort gewusst, was nun zu tun sei. So jedenfalls heißt es im gerade erst erschienenen Effi-Briest Handbuch (2019, S. 172), das in bewundernswerter Weise den derzeitigen Forschungsstand zum Roman sichtet und bündelt. Die erwähnte Annahme aber darf mit Verlaub bezweifelt werden. Denn zwischen dem ersten Lesen der Briefe und dem Entschluss zu reagieren, vergehen Stunden. Auf nicht einmal zwei Druckseiten gelingt es Fontane, die Aufgewühltheit Innstettens deutlich zu machen. Zuerst hört man ihn unruhig in seinem Zimmer hin und her gehen, schließlich verabschiedet er sich mit der Ankündigung, ein bis zwei Stunden unterwegs zu sein, um dann deutlich länger wegzubleiben. Dann, nachdem er zurückgekommen ist, zieht er sich wieder in sein Zimmer zurück und lässt sich „die Lampe“ bringen. Man wundert sich: Ist in dem Zimmer des Hausherrn keine eigene Lampe vorhanden? Muss es diese spezielle Lampe sein, in der in den grünen Schirm Fotos der Ehefrau eingelegt sind, so dass man sie, nahezu wörtlich, bei Lichte betrachten kann? Was Innstetten dann auch sehr genau tut. So, als könne man etwas entdecken, was bisher entgangen ist. Dann reißt er die Balkontür auf, weil ihm zu schwül ist, dann greift er wieder zu den Briefen. Man mag es drehen und wenden wie man will, ein Verhalten, das deutlich macht, man wisse genau, was zu tun ist, sieht anders aus.

Für eine eher anzunehmende Unsicherheit spricht auch noch ein anderer Befund. Als Wüllersdorf bei Innstetten eintrifft, begrüßt Letzterer ihn mit der Entschuldigung, ihn gebeten zu haben, „noch gleich heute“ bei ihm „vorzusprechen“, ihn also aufzusuchen. Wann aber und durch wen hat diese Bitte Wüllersdorf erreicht? Es kann ja nur während der erwähnten Abwesenheit Innstettens gewesen sein. Aber wie die Bitte an Wüllersdorf herangetragen wurde, ob durch Innstetten selbst (eher unwahrscheinlich, denn dann würde man jetzt anders in das Gespräch einsteigen), durch einen Dritten oder durch ein Billett, all das bleibt einmal mehr eine Leerstelle.

Gravierender als die ist aber sicherlich eine andere Frage, die der Roman nicht stellt, erst recht nicht beantwortet, die für das Verständnis des Gesprächs aber alles andere als unwesentlich ist: Warum sucht sich Innstetten Wüllersdorf als Sekundanten und als Vertrauten?

Auch wenn wie nahezu immer eine abschließende Antwort kaum möglich scheint, lohnt sich ein Blick auf die Figur. Eingeführt wird Wüllersdorf erst sehr spät, im 24. Kapitel. Dort heißt es, dass Innstetten ihn „von früher her“ kannte, was immer genau das heißen mag, und er jetzt dessen „Spezialkollege“ sei. Mit dem gibt es im Ministerium offensichtlich ein enges Arbeitsverhältnis, so dass man sich bei Abwesenheit wechselseitig vertreten kann. Eine Erkrankung Wüllersdorfs führt dazu, dass Urlaubspläne verworfen werden müssen, weil Innstetten seinen Kollegen vertreten muss. Schließlich wird erwähnt (Kapitel 25), dass Innstetten gewillt sei, „auf das stille Leben“ in Kessin nun in Berlin „ein gesellschaftlich angeregteres folgen zu lassen“, was aber zunächst nur zögerlich anläuft. Jedenfalls heißt es in diesem Zusammenhang aber: „Wüllersdorf kam oft“. Das sind die einzigen Berührungspunkte, die vor dem Gespräch und dem folgenden Duell erwähnt werden. Alle sich anschließenden, vertrauteren Begegnungen, insbesondere das zweite Gespräch zwischen den beiden Männern im Kapitel 35 scheinen die Entwicklung der Beziehung aufzuzeigen, die sich aus dem ersten Gespräch und dessen Folgen ableiten lassen, nicht aber aus der Vorgeschichte.

Worauf die Ausführungen hinauslaufen sollen? Nun, darauf, deutlich zu machen, dass es zwischen Wüllersdorf und Innstetten vor dem Gespräch im 27. Kapitel gesellschaftliche Bindungen gibt, aber keine freundschaftlichen, aus der sich die Wahl zum Vertrauten und Sekundanten erklären ließe. Warum aber zieht dann Innstetten gerade diesen Mann ins Vertrauen? Er wird ihn so gut gekannt haben, dass er wissen musste, der würde in Zweifel ziehen, was als Entschluss zum Duell präsentiert wird. Wäre er, Innstetten, sich so sicher gewesen, was zu tun sei, so hätte er es sich leichter machen können. Man muss sich nur vor Augen halten, mit welch blödsinnigem Zynismus Innstettens Vorgesetzter im Ministerium reagiert, als er ihn über das stattgefundene Duell und dessen Folgen informiert: „Ja, Innstetten, wohl dem, der aus allem, was das Leben uns bringen kann, heil herauskommt: Sie hat’s getroffen.“ Die Konsequenz einer solch verständnislosen Dämlichkeit besteht dann darin, dass dieser vorgesetzte Mensch „alles, was geschehen ist, in der Ordnung fand“; wie es lapidar in einem Erzählerkommentar heißt. Und in einem von solchem Geist geprägten ministerialen Apparat soll es niemanden gegeben haben, der mit gleicher Blödheit Innstettens Bitte, Sekundant zu werden, einfach und widerspruchslos exekutiert hätte?

Nein, Innstetten wählt Wüllersdorf, einen Infragesteller, einen, wäre der Begriff nicht und sehr zu Unrecht so abschätzig konnotiert, Bedenkenträger. Einen, das muss zugleich gesagt werden mit Blick auf Wüllersdorf, der aber über das Infragestellen und Bedenkentragen nie hinauskommt, sondern immer den Dreh findet, sich im Gegebenen einzurichten. Und dennoch darf wohl festgehalten werden, dass sich zu Beginn des Gesprächs Innstetten keineswegs so sicher ist in seinem Entschluss und seiner Haltung wie oftmals behauptet, und dass aufgrund der Ausgangskonstellation dem Gespräch die Möglichkeit zunächst noch innewohnt, ergebnisoffen zu sein.

Das Gespräch

Vergleicht man die sprecherische Umsetzung unterschiedlicher Hörbuchproduktionen gerade dieses Gesprächs miteinander, so werden erhebliche Unterschiede in der Ausgestaltung der Innstetten-Figur deutlich. Bei allen graduellen Nuancierungen findet man in den meisten Produktionen, zumindest in jenen, die ich kenne, den Innstetten, der sich seiner Sache sicher ist, der aufgrund dessen auch ex cathedra spricht und ins Dozieren verfällt. In der Aufnahme des NDR aus dem Jahr 1987, die Gert Westphal eingelesen hat, begegnet uns jedoch eine anders ausgestaltete Figur, ein zögernder, suchender, seine Zweifel hörbar machender Innstetten, der an der einen oder anderen Stelle sogar als Frage formuliert, was im Romantext mit einem Punkt abgeschlossen wird.

Das Gespräch der beiden Männer beginnt nach Wüllersdorfs Ankunft und dessen Eintreten sehr formell, fast steif. Innstetten entschuldigt sich für die seinerseits forcierte Dringlichkeit, bietet seinem Gast einen Platz an mit der Bitte, es sich bequem zu machen und eine Zigarre zu nehmen. Dass diese Vertraulichkeitsgesten signalisieren, etwas sei nicht in der Ordnung, ist Wüllersdorf von Beginn an klar. Innstettens Verhalten tut sein Übriges, um die Tragweite der geschaffenen Kommunikationssituation deutlich zu machen. Er merkt, dass sein fortgesetztes Auf-und-ab-gehen „nicht gehe“, und wechselt die Position. Gehend und stehend redend, während der Andere sitzt, forciert ein Sprechen von oben nach unten, eine komplementäre Gesprächssituation, die zu Attitüden des Sich-sicher-seins und der offensichtlich unerwünschten eigenen Überlegenheit verleitet bei der angestrebten Durchdringung des Falls, um den es gehen soll. Innstetten begibt sich auf Augenhöhe, setzt sich, nimmt ebenfalls eine Zigarre. Dann aber kommt er gleich zu seinem Anliegen. Er fällt mit der Tür quasi ins Haus, so als dränge es ihn, endlich nicht mehr schweigen zu müssen:

„Es ist“, begann er, „um zweier Dinge willen, daß ich Sie habe bitten lassen: erst um eine Forderung zu überbringen und zweitens um hinterher, in der Sache selbst, mein Sekundant zu sein; das eine ist nicht angenehm und das andere noch weniger. Und nun ihre Antwort.“

Worauf genau? Eine Antwort auf die implizite Frage, was Wüllersdorf von dem Ansinnen überhaupt hält? Oder darauf, ob er der Bitte Folge leisten wird? Naheliegender ist offenbar Letzteres, denn der Angesprochene betont sogleich, dass Innstetten über ihn „zu verfügen“ habe. Abwegig ist aber die erste Antwortmöglichkeit auch nicht. Denn seine „naive Vorfrage: muß es sein?“, die Wüllersdorf gleich anschließt, stellt Innstettens Bitte sehr wohl in Frage. Da Wüllersdorf noch nicht den Grund für die in Aussicht stehende Duellforderung kennt, kann sich seine Gegenfrage nur auf grundsätzliche Einwände beziehen.

Worauf aber, so möchten wir zuerst fragen, beziehen sich seine Einwände dabei nicht? Sie nehmen hier wie an keiner weiteren Stelle im Gesprächsverlauf die Rechtslage in den Blick. Was Innstetten beabsichtigt, ist de iure verboten, ist de facto in den entsprechenden Kreisen noch immer erschreckende Praxis und wird, wenn überhaupt, vom Staat geahndet in einer Weise, die man nur als Farce bezeichnen kann. Das Duell ist offensichtlich für die beiden Gesprächspartner in einer solch selbstverständlichen und grundsätzliche Weise eine legitime Handlungsoption, dass Legalitätsfragen keine Rolle spielen.

Wüllersdorf stellt allerdings auch keine moralische Grundsatzfrage, die man im ersten Augenblick bei der Bemerkung „muß es sein“ vielleicht nun doch erwarten könnte. Seine Bemerkung reißt keine ethischen und moralischen Horizonte auf, bezweifelt nicht das vermeintliche Recht, jemanden totzuschießen, sondern ist bei genauer Betrachtung tatsächlich so ’naiv‘ wie von ihm bemerkt. Denn Wüllersdorf argumentiert mit dem Alter der Beteiligten: „Wir sind doch über die Jahre hinweg“. Schon bei flüchtigem Nachdenken ist klar, dass dieses Argument kaum zu halten ist. Zum einen ist die Anspielung auf das eigene Alter für Innstetten zumindest, der zum Zeitpunkt des Gesprächs und des folgenden Geschehens Mitte 40 ist, befremdlich, zum anderen war und ist das Alter keine Kategorie, die Rechtsverstöße legitim und begründbar erscheinen lässt. Wir begegnen hier einer offensichtlich typischen Haltung dieses Wüllersdorf, die er an späterer Stelle, nämlich im zweiten längeren Gespräch mit Innstetten im 35. Kapitel selbst sehr unmissverständlich beschreibt als: „Einfach hierblieben und Resignation üben.“ Deutlich wird, was oben schon festgestellt wurde: Bei aller Einsicht in die Fragwürdigkeit der Verhältnisse bemüht er sich intuitiv darum, für sich selbst genau daran nichts ändern zu müssen und Unannehmlichkeiten, wenn es eben geht, zu vermeiden.

Es ist vermutlich genau dieses Bewahrenwollen, das ihn dann schnell wegkommen lässt von seinen Bedenken. Er fokussiert das Gespräch gleich wieder auf das, was der Grund sei für die Duellforderung. Wenn er Innstetten auffordert, nun zu „sagen […], was ist es?“, so lenkt er von seinen spontanen Einwürfen selbst wieder ab. Im schnellen Wortwechsel, in dem das Gespräch jetzt in kurzen Sätzen hin und her geht, verschafft Innstetten ihm ein Bild über die Gründe seines Handelns. Dass die Briefe einen Ehebruch dokumentieren, scheint Wüllersdorf schnell klar, er fliegt nur „drüber hin“. Das kurz in Fahrt gekommenene Gespräch verlangsamt sich aber rasch wieder, als Wüllersdorf den zeitlichen Abstand zum vermeintlichen Ehebruch ins Spiel bringt.

Innstettens Antwort ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam für den Fortgang. Zum einen verschieben sich ab jetzt die quantitativen Gesprächsanteile sehr zu dessen Gunsten. Man kann durchaus behaupten, dass Wüllersdorf doch beinahe auf die Rolle des Stichwortgebers beschränkt wird, um Innstettens Argumentation Raum zu geben, auf eine Rolle, die – und das ist kein Widerspruch – dennoch bemerkenswerte Impulse setzt. Zum anderen aber bringt Innstettens Erwiderung den gesamten weiteren Argumentationsverlauf in eine auffallende Schieflage. Wenn er nämlich jetzt eine „Verjährungstheorie“ ins Spiel bringt, stellt sich die Frage, ob er argumentativ nicht das vollzieht, was Philosophen wohl einen Kategorienfehler nennen würden? ‚Verjährung‘ ist nämlich ein Rechtsterminus. Wüllersdorf aber spielt doch auf den durch die Zeit sich ergebenden emotionalen Abstand an zwischen dem damaligen Ereignis und dem jetzigen Entdecken. Man mag auch das mit seinen eigenen Worten als ’naive‘ Frage wahrnehmen. Die bleibt aber viel näher beim eigentlichen Umstand als eine im Gespräch sich plötzlich eröffnende Ausflucht in Rechtskategorien.

Wüllersdorf bleibt jedenfalls zunächst beharrlich und macht die Folgen des Duells anschaulich. Er spitzt zu: „Alles dreht sich um die Frage, müssen Sie’s durchaus thun? Fühlen Sie sich so beleidigt, empört, daß einer weg muß, er oder Sie? Steht es so?“ Mit seinen Fragen richtet er sein Augenmerk auf das subjektiv gefühlte Ausmaß persönlicher Kränkung und damit unausgesprochen auf einen bestimmten Aspekt von Ehre und deren vermeintlicher Verletzung, aber eben nur – numerisch – auf einen Aspekt.

Es gibt zahlreiche Untersuchungen zur Geschichte und Aktualität des Ehrbegriffs. Wenn man sich auch nur flüchtig damit beschäftigt, entsteht doch schnell der Eindruck, dass diesem Begriff bei allem ihm eigenen Bedeutungswandel in unterschiedlichen sozialen, kulturellen und geschichtlichen Zusammenhängen doch mindestens ein die Zeiten und Räume überdauerndes Merkmal eigen ist: er hat eine subjektiv-private und er hat eine gesellschaftlich-öffentliche Seite. Ehre und deren tatsächliche oder vermeintliche Verletzung hat etwas zu tun mit Selbstwertbefindlichkeiten und mit äußeren Zuschreibungen auf ein gesellschaftliches Subjekt. Die wiederum speisen sich aus Wertbefindlichkeiten einer Gemeinschaft und beeinflussen damit selbstredend auch wieder den Selbstwert des Einzelnen. Zu trennen sind die beiden Seiten nicht.

Schaut man vor diesem Hintergrund auf Wüllersdorfs insistierende Nachfragen, so wird sehr deutlich, dass er aber genau das tut. Seine Fragen nehmen nur die eine, nämlich die private Seite des Ehrbegriffs in den Blick. Diesem Aspekt folgt das Gespräch zunächst einmal, und er scheint Innstetten doch so zu irritieren, dass es ihn nicht mehr im Sessel hält. „Innstetten war aufgesprungen“, wohlgemerkt nicht ‚aufgestanden‘,

trat ans Fenster und tippte voll nervöser Erregung an die Scheiben. Dann wandte er sich rasch wieder. ging auf Wüllersdorf zu und sagte:
„Nein, so steht es nicht.“

um nach kurzem Insistieren Wüllersdorfs seine emotionale Verfassung durchaus wortreich zu schildern und in die Einsicht münden zu lassen,

daß ich mich, mir selbst zum Trotz, in meinem letzten Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle.

Die Entdeckung der Briefe und der aufgrund der Indizienlage erhärtete Verdacht des Ehebruchs haben Innstetten eine Seite an sich selbst wahrnehmen lassen, die ihm, so sagt er zumindest, fremd war, ihm „selbst zum Trotz“, und die zunächst das Potenzial hat, das Andere in ihm zu verdrängen. Er zeigt sich selbst überrascht, feststellen zu müssen, dass der Faktor Zeit wohl doch für die Beurteilung einer emotionalen Befindlichkeit eines Rolle spielt. Überrascht ist man aber auch als Leser, nämlich darüber, dass ein erwachsener, durchaus lebenserfahren zu nennender Mensch darüber so erstaunt ist, dass Zeit bei der Bewältigung von Konflikten eine Rolle spielt. Man verzeihe mir die Abschweifung, aber auf eine solche Bemerkung würde Loriot mit einem entlarvenden „Ach, was!“ reagieren.

Als weiteres gesteht Innstetten sich selbst und seinem vertrauten Gegenüber die Stärke seiner Bindung zu Effi ein. Man darf da wiederum ihm wohl folgen, wenn man das, jenseits aller Standesüberlegungen, als Liebe bezeichnet. Der zeitliche Abstand also und die Liebe zu seiner Frau lassen, so resümiert er vorerst, Hass und Rache als Handlungsmotive erst gar nicht wirksam werden.

Folgte man für die Scheinlegitimierung der Duellforderung der Wüllersdorfschen Gekränktheitsthese, so wäre die Rechtfertigung, sich wegen des Vorfalls duellieren zu wollen, an dieser Stelle schon obsolet. Vielleicht möchte der auf diese Schlussfolgerung auch tatsächlich hinaus, betont deshalb, Innstettens Stellungnahme sei für ihn vollkommen nachvollziehbar. Er leitet daraus aber keine Schlussfolgerung ab, die der Forderung argumentativ das Wasser abgraben könnte. Er lässt stattdessen – soll man in Anbetracht des weiteren Gesprächsverlaufs sagen: fatalerweise? – eine offene Frage folgen: „Innstetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte?“ Er wiederholt mit anderen Worten sein „Muß es sein“ vom Beginn des Gesprächs und geht an dessen Ausgangspunkt zurück. Da war man schon mal und fängt letztlich von vorne an. Man dreht sich, ohne es zu bemerken, im Kreis und gibt dem ganzen Irrsinn eine zweite Chance.

So bekommt Innstetten in der Dynamik des Gesprächs die Möglichkeit, mit einem langen Plädoyer stark zu reden, was den angesprochenen und zumindest für den Gefühlsmoment beiseite geschobenen „Trotz“ nicht nur bedient, sondern eigentlich ausmacht. Eigentlich müsste man seinen Monolog komplett zitieren; das ist bisweilen auch geschehen. Die immer wieder als Beleg für Innstettens Angepasstheit oder für die Konsequenz einer Haltung, aus der das Duell, man kann auch sagen: die Legitimation zum gegenseitigen Totschießen mit brutaler Schlüssigkeit erwächst, ist dieser Textpassage entnommen. Hier finden wir die bekannten, immer wieder angeführten legitimatorischen Bemerkungen, insbesondere die vom „tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas“, dem man sich zu fügen habe. Das Ganze endet vorläufig mit der Schlussfolgerung: „Ich habe keine Wahl. Ich muß.“

Man könnte mit durchaus aktuellem Bezug diese Textpassage heranziehen, um darüber nachzudenken, wie gefährlich doch die These einer vermeintlichen Alternativlosigkeit sein kann. Aber lassen wir das, schauen wir auf Innstettens Argumentationsversuch, beziehungsweise auf dessen Fehler. Wenn er behauptet, man sei

nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm,

dann ist das etwas Abstraktes, man darf auch sagen: eine Chimäre. Denn im Hinblick auf den Ehebruch, der Jahre her ist, gibt es kein ‚Ganzes‘, gibt es keine Öffentlichkeit, gibt es keinen normativen Handlungszwang – außer den, den man sich selbst macht. Denn keiner weiß davon.

Wie wenig diese Position überzeugt, lässt sich leicht an Wüllersdorfs Reaktion ablesen: „Ich weiß doch nicht, Innstetten, …“. Aber jetzt lässt der ihn nicht zu Wort kommen, unterbricht ihn, bevor sein Gesprächspartner überhaupt richtig beginnen kann. Das entspricht nicht Innstettens gewohntem Konversationsstil und scheint dem Eindruck geschuldet, dass seine These nicht zieht. Er muss nachlegen, und zwar ohne in seinem Gedankenfluss unterbrochen zu werden, um nicht in noch stärkere Zweifel zu geraten. Aber wieder gerät seine Argumentation in Schieflage. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Aspekt Mitwisserschaft, den er jetzt ins Spiel bringt, als konkretes und anschauliches Beispiel für dieses „tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“ angeführt werden soll. Selbst wenn man unterstellt, dass das Vorwissen über eine Person den eigenen Blick auf sie und ihr Tun und Lassen mitbestimmt – und wer möchte behaupten, dass diese Annahme falsch sei? -, so muss man doch zweierlei festhalten. Die Situation wurde von Innstetten selbst herbeigeführt, dafür ein irgendwie geartetes Gesellschafts-Etwas anzuführen, wäre geradezu lächerlich. Außerdem muss man feststellen, dass Innstetten eine andere Konsequenz als diejenige, die er dann sehr plastisch schildert, nachdem Wüllersdorf ihm mehrfach seine Verschwiegenheit versichert hat, gar nicht in Betracht zieht.

Mag sein, es ließe sich an Innstetten Fatalismus etwas korrigieren, würde man sich die letzten Sätze seines langen Monologs als offene Fragen vorstellen können, in denen wenigstens noch Restzweifel zum Klingen kommen, nicht aber als bloße rhetorische Fragen: „Habe ich recht, Wüllersdorf, oder nicht?“ Die zuvor gesetzten drei Auslassungspunkte markieren eine Sprechpause und deuten an, dass da jetzt nicht zwangsläufig etwas festgeschrieben werden soll. Der weiter oben schon erwähnte Gert Westphal kann das auch so sprechen, aber es nützt nichts.

Es nützt nichts, weil Wüllersdorf argumentativ kapituliert. Auffallend ist, dass er auf das letzte Argument gar nicht eingeht. Was hätte ihn daran gehindert, weiterhin darauf zu bestehen, dass seine Mitwisserschaft eben nicht öffentlichkeitsrelevant ist, dass es für ihn eine Frage der Reputation sei, verschwiegen zu sein, dabei als verlässlich zu gelten, dass das Zeitargument überhaupt nicht vom Tisch sei, und einiges andere, was man einwerfen könnte? Stattdessen bemerkt er zustimmend, dass der „Ehrenkultus“ ein „Götzendienst“ sei, aber dass man sich ihm „unterwerfen“ müsse, „solange der Götze“ gelte. Mit diesem Schlusswort im Gespräch, bekräftigt er eigentlich nur eine Haltung, die schon einmal erwähnt, sich auf die Bemerkung reduzieren lässt: „Einfach hierbleiben und Resignation üben“. Es zeigt, was Wüllersdorf ganz zu Anfang des Gesprächs, eher beiläufig, eher unreflektiert schon benannt hat: eine geradezu erschreckende Naivität, aus der sich Angepasstheit ableitet.

Mit dem lapidaren Satz „Innstetten nickte“ endet das Gespräch. Aber um welche Art von Nicken handelt es sich? Ist es ein bestätigendes und bekräftigendes Nicken des Mannes, dessen Argumentationskette sich am Ende durchgesetzt hat? Das Nicken des Siegers im Duell der Worte und Sichtweisen? Ist es das resignierende Nicken desjenigen, der am Ende des Gesprächs feststellen muss, dass der Gesprächspartner bei allen Ansätzen, die man erkennen konnte, dem Fatalismus der Argumentation nichts hat entgegensetzen können?

Ob ich es jemals erfahre?

Was bleibt

Kommen wir zum sicherlich nur vorläufigen Ende der Lektüre. Wessen bin ich gewiss?

Nun, die vertiefte Lektüre des Gesprächs zwischen Innstetten und Wüllersdorf und dessen weiterer und unmittelbarer Umstände, in denen es stattfindet, machen, so scheint es mir, unmissverständlich deutlich, dass Innstetten tatsächlich um eine angemessene Handlungsweise ringt und weit davon entfernt ist, sofort zu wissen, was zu tun sei. Auch wenn man gerne erfahren hätte, was in den Stunden zwischen der Entdeckung der Briefe und dem Eintreffen Wüllersdorfs passiert ist, kann man doch wohl belastbar behaupten, dass seine Verhaltensweisen ansonsten nicht erklärbar wären. Dieses Ringen ist auch noch nicht abgeschlossen, als Wüllersdorf bei ihm erscheint. So ist dann auch das Gespräch zwischen den beiden Männern zu Beginn noch ergebnisoffen, die Alternative möglich, nämlich zuerst ein einvernehmliches Vertrauen der beiden auf die wechselseitige Verschwiegenheit und in der Konsequenz der Verzicht auf das Duell. Die These, eine andere Wendung als die, die schließlich eintritt, habe von Beginn an keine Chance gehabt, überzeugt nicht. Die mögliche andere Wendung scheitert im Gespräch, nicht zuvor.

Das entschuldigt nicht Innstettens und Wüllersdorfs Versagen, im Gegenteil. Warum kommt es dann aber zu dem fatalen Ausgang des Gesprächs? Man ist geneigt zu sagen: wegen der Mittelmäßigkeit der Charaktere, die es führen. Innstetten hat, wie die Entwicklung der Figur bis dahin genug Gelegenheit gab zu erkennen, das intellektuelle Potenzial zum Querdenken. Und auch Wüllersdorf erscheint keineswegs als kleines, eingetrübtes Licht, unfähig oder aber nicht willens, die Dinge zu hinterfragen. Er kann es, er tut es – und hört in entscheidenden Momenten damit auf. Dann nämlich, wenn sein Infragestellen Verhaltensmodifikationen nach sich ziehen müsste.

Gilt das vergleichbar auch für Innstetten? Was, das frage ich mich bis heute, ist denn das angeführte „tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“ genau? Dieses sehr allgemein Bezeichnete schützt Innstetten letztlich davor, mal konkret zu werden. Er versteckt sich hinter einem (zurecht) angenommenen Einverständnis, das jeder, der diese schöne Formulierung hört, zustimmend nicken wird. Man kann die Aussage sicherlich interpretieren. Ob man es mit Freud, der sich übrigens konkret auf Effi Briest bezieht, als „Unbehagen in der Kultur“ versteht oder als Ausdruck „internalisierte[r] gesellschaftliche[r] Repressionsmechanismen“ (Katharina Grätz, S. 165) – hier kommen mir beide Figuren letztlich zu gut weg. Schuld sind die anderen, die meinen intellektuellen und psychischen Apparat so besetzt haben, dass ich gar nicht anders kann! Nun, ja.

Ich kann auch nichts anfangen mit der Behauptung, Innstetten habe im Grunde „gleich unter dreifachem Duellzwang“ gestanden, „als Aristokrat, als Offizier Kaiser Wilhelms und als studierter Jurist“ (Gerhart von Grävenitz, S. 611f.). Nein, er stand unter gar keinem Duellzwang, er musste keinem fragwürdigen Ehrennarrativ folgen, und das scheint er zumindest gespürt zu haben. Denn ansonsten hätte er nicht gezögert und überlegen müssen, und solch eine lange scheinlegitimatorische Rede wäre auch nicht nötig gewesen.

Vor allen Dingen nämlich gab es keine Öffentlichkeit, die das Duell hätte sanktionieren können. Welchen belastbaren Grund hat es gegeben, die von Wüllersdorf mehrfach angesprochene Vertraulichkeitszuversicht beiseite zu wischen? Es tut mir leid, ich sehe ihn nicht. Zu der fatalen Entwicklung kommt es, weil die beiden Männer sich in diesem Gespräch, ja man muss wohl sagen, verheddern und den eigenen Gang der Rede und Widerrede nicht mehr in den Griff bekommen, aufgrund dessen alles Folgende seinen Lauf nimmt. Das klingt banal.

Das klingt banal, weil man beim Lesen und Wiederlesen und Wiederwiederlesen immer mehr vor Ehrfurcht erschaudert, angesichts der Erzählkunst, mit der Fontane das Gespräch aufbaut und entwickelt. Die so erzeugte Unmittelbarkeit der Figurenrede ist derart authentisch, dass man als Leser geneigt ist, den beiden zu folgen. Wir glauben es doch zu kennen, zu erfahren an uns selbst, dieses „tyrannisierende Gesellschafts-Etwas“. Und wie viele von uns, wenn sie ehrlich sind, würden nicht Wüllersdorf folgen, dass „Ehrenkultus […] Götzendienst“ sei, wenn man das Bestimmungswort ‚Ehren…‘ nur kurz, sagen wir, durch ‚Konsum…‘ ersetzen würden: ‚Unser Konsumkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt‘. Ich glaube, es wären nicht wenige, die diesen Satz unterschreiben würden, selbst wenn er ihnen inhaltlich alles andere als zusagt. Was jedoch ist dann mit unserer Verantwortung für hinlänglich bekannte Folgen?

Die Konsequenz dieser Frage macht die Verurteilung der beiden Männer entschieden schwerer. Fontane fiel es wohl leichter als seinen Leserinnen und Lesern, Innstetten als „ein ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar“ wahrnehmen zu kennen, „dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt“. Man darf das ironische Zwinkern dieser Äußerung, die der Autor im Oktober 1895 in einem Brief an Clara Kühnast formulierte, sicherlich nicht überlesen, aber man darf ebenso annehmen, dass er genau wusste, wie nah uns doch dieser Innstetten ist. Sich moralisch über ihn zu erheben, kann dann zum Ritt auf der Rasierklinge werden.

Manchmal wünsche ich mir, ich würde diese Figur und auch diesen Wüllersdorf nicht mögen. Es wäre wohl leichter, mit ihnen umzugehen. Aber wie kann man sie nicht mögen? Es wäre eine Art Selbstverleugnung.


Nachlese

Zitiert wurden Textpassagen aus Effi Briest nach folgender Ausgabe: Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. Hrsg. von Christine Hehle. – Berlin: Aufbau Verlag 1998 (Große Brandenburger Ausgabe. Das Erzählerische Werk, Band 15).

Es gibt daneben zahlreiche Ausgaben in unterschiedlicher Ausstattung. Wer auf eine gut kommentierte, aber preiswertere Taschenbuchausgabe zugreifen möchte, dem sei die Ausgabe von DTV oder von Reclam empfohlen.

Erwähnte weiterführende Literatur:

Theodor Fontane: Effi Briest, Ungekürzt gelesen von Gert Westphal. (Aufnahme: Norddeutscher Rundfunk 1987). – Berlin: Universal Music 2003.

Effi Briest-Handbuch. Hrsg. von Stefan Neuhaus. – Stuttgart: J.B. Metzler 2019.

Grätz, Katharina: Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk. – Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2015.

von Grävenitz, Gerhart: Theodor Fontane. Ängstliche Moderne. – Konstanz: Konstanz University Press 2014.