Sollte die Erinnerung nicht trügen, so war es ein Leserkommentar auf der Verlagsseite von Suhrkamp selbst, der seine eigenen Leseeindrücke lapidar mitteilte: „Das Narrenschiff“ sei eines der langweiligsten Bücher gewesen, das er (ich glaube mich zu erinnern, dass es ein Männername war, der angezeigt wurde) je gelesen habe. Leider habe ich versäumt, die genaue Quelle zu notieren oder auf andere Weise zu sichern. Ich hatte Heins neuen Roman zwar schon gekauft, aber die Lektüre noch nicht begonnen. Auch wenn mir dieser Eindruck irgendwie gefiel, weil er so begründungsfrei in den Raum gestellt wurde und weil offensichtlich niemand mit Administrationsrechten dahergekommen war ihn wegen vermeintlicher Unsachlichkeit einfach wieder zu löschen, war mir wahrscheinlich in diesem Moment noch gar nicht klar, dass dieser Leseeindruck zum Aufhänger werden könnte, um über „Das Narrenschiff“ zu schreiben.
Jetzt jedenfalls finde ich meine Quelle nicht mehr. Ich stieß im Nachhinein auf zahlreiche Rezensionen, Blogbeiträge und Leserkommentare, die den Aspekt der Langeweile in den Blick nahmen, meistens, fast immer, um ihn abzuwehren, aber den, der es bei der lapidaren Bemerkung bewenden ließ, fand ich nicht mehr. Warum dann ein solches Aufheben darum?
Nun, nach der Lektüre dieses 750-Seiten-Romans, muss ich gestehen, dass ich den Verfasser des Kommentars verstehen kann. Wer sich für die Geschichte der DDR nun so gar nicht interessiert, nicht für Lebensläufe von Menschen, die in diesem oder einem anderen autoritären Staat gelebt haben, wer sich nicht befreunden kann mit einem Erzählstil, mag man ihn chronikal nennen, der alles Erzählte in Äquidistanz hält, egal, ob es um raffende Darstellung historischer Ereignisse handelt, um erlebte Rede oder um ein Gespräch, der im Chronisten einen altbacken anmutenden auktorialen Erzähler wiederbelebt – wer also bestimmte inhaltliche oder ästhetische Gründe anführt, die nicht einfach vom Tisch gewischt werden können, ja, der wird diesen Roman als ausgesprochen langweilig wahrgenommen haben. Man könnte die Person dann nur fragen, warum sie sich diese 750 Seiten angetan hat.
Kurz: Ich verstehe durchaus, dass man „Das Narrenschiff“ langweilig finden kann. Ich teile den Lesereindruck allerdings nicht.
Aus zwei Gründen. Der eine ist recht leicht zu benennen: meine Interessenlage ist schlicht eine andere. Der andere: Der eigentlich immer gleich bleibende Erzählton einer immer gleich bleibenden auktorialen Erzählhaltung entfaltet trotz punktueller Schwächen insofern auch seine Stärken, als er ganz wesentlich dazu beiträgt, den sieben, vielleicht acht Hauptfiguren mit kritischer Distanz zu folgen. Sie alle eint, dass sie die Fähigkeit besitzen, sich in den unterschiedlichen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen einzurichten; wir werden noch darauf zu sprechen kommen. Dass man als Leser nicht in deren Gedanken- und Gefühlswelten hineingezogen wird, erweitert den eigenen Spielraum, sich dazu zu verhalten. Der Roman wird auf diese Weise analytischer als etwas Heins vorheriger, „Unterm Staub der Zeit“, in dem ein Ich-Erzähler in seinem immer weniger erträglichen Gleichmut gegenüber allem, was ihm widerfuhr, das Wirkungspotenzial des Textes gegen die Wand fuhr.
„Das Narrenschiff“ spannt einen gewaltigen Bogen. Von einem kurzen Präludium abgesehen, beginnt der Roman am 1. Mai 1945 (oder in der etwas manirierten Heinschen Schreibweise aller Datumsangaben: am ersten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig) und endet im Dezember 1990. Er umfasst die gesamte Existenzzeit der DDR und kann mit gutem Grund als Epochenroman bezeichnet werden. Er bildet aber keine vermeintliche Totalität der historischen Wirklichkeit ab, schlimmstenfalls als halbgare Reminiszenz an ästhetische Vorstellungen des Sozialistischen Realismus; glücklicherweise. Er erzählt in markanten Episoden die Geschichte des Arbeiter-und-Bauern-Staates, in dem zwei gesellschaftliche Schichten als Akteure nicht vorkommen. Genau die! Ihm, dem Roman, das vorzuhalten, wäre unredlich. Hein hat in einigen Stellungnahmen im Rahmen der Romanpräsentation, vor allem im Verlagsgespräch mit Jonathan Landgrebe und Steffen Mau, darauf hingewiesen, er habe eine Geschichte der DDR von oben erzählen wollen, aus der Nomenklatura heraus. Das hat er umgesetzt – und das haben wir zu akzeptieren.
Der Suhrkamp Verlag legt dem Buch ein Lesezeichen bei. Darauf sind die Namen der „wichtigsten Personen“ und deren berufliche Positionen abgedruckt. Das ist ansprechend gemacht; wenn man aus einer gewissen zeitlichen Distanz den Roman noch einmal zur Hand nimmt, vielleicht auch hilfreich. Aber unbedingt notwendig ist es nicht. Denn das in der Zahl doch überschaubare zentrale Figurenarsenal wird der Leserin und dem Leser bei aller Distanz, die die Art des Erzählens wahrt, so vertraut, dass man nicht Gefahr läuft, den Überblick zu verlieren. Alle übrigen Figuren treten nur auf, wenn sie in Beziehung gesetzt werden zu einem der Protagonisten oder Protagonistinnen. Sie bleiben weithin konturlos, vom späten Lebenspartner Benaja Kuckucks, Friedrich Böttiger, vielleicht abgesehen. Realhistorische Personen, die im Roman auftreten, werden immer nur als Funktionsträger benannt und bleiben geradezu gesichtslos.
Wer sucht, wird zumindest in einigen Passagen Parallelen zu Heins eigener Biographie ausfindig machen. Hein selbst hat in Interview auf solche Zusammenhänge hingewiesen, dabei den literarischen Überformungsgrad seiner Figurengestaltung aber unerwähnt gelassen. „Das Narrenschiff“ aus diesem Grund zu einem Schlüsselroman zu erklären, ist unter einem voyeuristischen Blick vielleicht legitim, aber nicht sonderlich ertragreich, um dem Roman in seinem Gehalt gerecht zu werden.
Ertragreicher ist es, sich die Figuren als solche genau anzuschauen. Da ist aus der Aufbaugeneration zunächst Yvonne Goretzka. Der Krieg lässt sie als alleinerziehende Mutter in Berlin zurück. Ihr große Liebe, Jonathan Schwarz, war Jude, eine Heirat im NS-Staat unmöglich. Seine Spur verliert sich, als er versuchte, in die Schweiz zu fliehen, und seither verschollen ist. Yvonnes Enkel wird später seinen Vornamen tragen. Sie arbeitet nach dem Krieg zunächst als Bürohilfskraft, wird später zur Kulturhausleiterin und schließlich zur Stellvertreterin Benaja Kuckucks im Referat Kinder- und Jugendfilm der Hauptverwaltung Film. Ihre zentrale Aufgabe dort ist Überwachung, und zwar die ihres als doch etwas dubios und in seinen sozialistischen Standfestigkeit unsicher geltenden Vorgesetzten, und Einflussnahme auf die Filmproduktion, letztlich Zensur. Die Frau, die sich nach eigenem Bekunden an Politik vollkommen uninteressiert zeigt, steigt in Verantwortungspositionen auf, die immer politischer werden.
Zu verdanken hat sie diesen Aufstieg ihrem Mann Johannes Goretzka, mit dem sie, wie sie es selbst nennt, eine „Versorgungsehe“ eingeht; von Liebe keine Spur, und das über Jahrzehnte. Johannes Goretzka ist die Figur, bei der Mitleid- und Sympathieverweigerung am allerleichtesten fällt. Glühender Nazi, wird er im Krieg schwer verwundet, verliert ein Bein, gerät in russische Kriegsgefangenschaft und wird in einem Erziehungslager (mit Erfolg) zu einem strammen Stalinisten umerzogen. Er ist und bleibt bis zu seinem Tod ein vollkommen empathiebefreiter und humorloser Mensch. Als Fachmann für Erzbergbau und Hüttenwesen steigt er in der jungen DDR schnell auf, fällt aber in Ungnade, als er in der festen Überzeugung, das Richtige zu tun, der Parteilinie zuwiderläuft. Er wird abgestraft und degradiert. Mit allergrößter Anpassungsbereitschaft gelingt es ihm in den Folgejahren zwar, die Karriereleiter wieder hinauszuschleichen. Sein Status wird aber – Paradoxie der Geschichte – den seiner Frau nie mehr erreichen.
Die schillerndste Figur ist sicherlich der schon mehrfach erwähnte Benaja Kuckuck. Als ausgewiesener und renommierter Anglist und Literaturwissenschaftler, war er aufgrund seiner jüdischen Herkunft vor dem Krieg nach England ins Exil geflüchtet, findet nach 1945 aber weder an einer westeuropäischen Universität, noch in der DDR eine, seinen Fähigkeiten gerecht werdende akademische Anstellung. Er landet schließlich, wie schon erwähnt, als Referatsleiter in der Hauptabteilung Film. Er, der linke Freigeist, steht einer Zensurbehörde vor.
Als Yvonne Goretzka Kulturhausleiterin wird, freundet sie sich mit Rita Emser an. Stellvertreterin des Bürgermeisters. Die wiederum ist verheiratet mit dem Ökonomie-Professor Karsten Emser, gleichzeitig Mitglied des Zentralkomitees der SED. Dort bleibt er aber in all den folgenden Jahrzehnten in der zweiten Reihe. Er war während der Naziherrschaft im Exil in Moskau gewesen und hatte dort die Säuberungswellen überstanden. Allerdings hatte er dabei selbst eine unrühmliche Rolle gespielt. Was genau geschehen war, ob er ’nur‘ nicht eindeutig Position für bedrohte Mitstreiter bezogen oder sie den Stalin-Schergen sogar ans Messer geliefert hatte, bleibt im Halbdunkel. Erzähltechnisch betrachtet ist Emser diejenige Figur, die auf Inhaltsebene Einblick hat in die innersten Zusammenhänge politischer Entscheidungen und auf der Kommunikationsebene des Textes diese Entscheidungen aus dem Machtzentrum der DDR heraus kommentierend nach außen vermittelt. Und das durch die Bank als Kritik, eine Kritik, die aber den Kreis des sich recht regelmäßig zusammenfindenden Freundeskreis mit den Goretzkas und mit Kuckuck nie verlässt. Denn nach außen vertritt Emser stets die Haltung, dass die Partei allein schon aus Gründen des individuellen Selbstschutzes immer recht habe. Da ist es dann letztlich auch egal, dass er die ökonomische Ausrichtung der DDR für grundsätzlich fehlgeleitet hält.
So bleibt aber, wenn ab und an auch auf dem sprachlichen Niveau eines mittelmäßigen Schülerreferats, fast kein Schlüsselereignis der DDR-Geschichte unkommentiert. Historisch interessant ist dabei sicherlich, dass der Regimewechsel von Ulbricht zu Honecker im Jahr 1971 unmissverständlich als Staatsstreich dargestellt wird. Noch bemerkenswerter erscheint mir aber, welches Ereignis in der Geschichte der DDR gar keine Erwähnung findet und bestenfalls am fernen Horizont einmal aufscheint: die Biermann-Ausbürgerung 1976 und ihre Folgen. Das erstaunt umso mehr, als immerhin zwei der Hauptfiguren, Yonne Goretzka und Benaja Kuckuck, Schlüsselstellen im Kulturbetrieb besetzen. Wundern würde mich nicht, wenn eine genauere Schilderung dieser Zeit Kürzungen zum Opfer gefallen wäre, aus welchen Gründen auch immer. Im oben verlinkten Verlagsgespräch mit Jonathan Landgrebe und Steffen Mau, berichtet Hein darüber, dass ihm relativ früh nach Beginn dieses Romanprojekts klar gewesen sei, er arbeite an einem 1000-Seiten-Roman. Auch wenn „Das Narrenschiff“ Heins bisher umfangreichster Roman wurde, ist er dennoch von dieser Zielmarke noch einiges entfernt. Schaut man auf den Aufbau, ist außerdem zu beobachten, dass der Roman beim Amtsantritt Honeckers schon Dreiviertel seines Umfangs hinter sich liegen hat, die Jahre bis 1990 also im Vergleich stark gerafft, zum Teil auch in Sprüngen erzählt werden.
So wie der Roman in der jetzigen Form vor uns liegt, lassen sich aus diesem Umstand aber auch deutende Aspekte ableiten. Die Figuren der Aufbaugeneration sind alt geworden in ihrer schier unbegrenzten Anpassungsbereitschaft an das politische System und den inneren Verhältnissen. Das hat ihnen nicht nur ideologische Orientierung gegeben, mag man sich im privaten Raum auch einmal dagegen mokiert haben. Es sorgte vor allem für ökonomischen Wohlstand. Alle Figuren gehören zu den Privilegierten. Sie leben in einer Blase der gehobenen Versorgungsgewissheit, die dem weit überwiegenden Gros der Bevölkerung bekanntermaßen nicht zugänglich war. Die Verspießbürgerlichung geht sogar so weit, dass es bei den Goretzkas ernthafte Sorgen und Bedenken gibt, als Kathinka, Yvonnes Tochter, Freundschaften in die Arbeiterschaft hinein entwickelt. Diese Oberschicht hält sich für etwas Besseres.
Hier lohnt ein kurzer Blick auf die zweite Generation der DDR-Bürger, vertreten durch den gemeinsamen Sohn von Yvonne und Johannes Goretzka, Heinrich, seine mehrfach erwähnte Halbschwester Kathinka und ihrem späteren Mann Rudolf Kaczmarek, in einigen biographischen Zügen sicher ein Alter ego des Autors. Sie eint ihr insgesamt kritisches Verhältnis zu dem Staat und den Verhältnissen, in denen sie aufwuchsen, und die Einsicht, dass es am Ende so nicht weitergehen konnte. Ihr Werdegang nach dem Zusammenbruch der DDR lässt zu Tage treten, wozu ihre Eltern nicht (mehr) fähig sind: Anpassungsfähigkeit an neue poltische Verhältnisse. Aber genau die weist Merkmale auf und lässt Verhaltensweisen zutage treten, bei Heinrich Goretzka ausgeprägter als bei Kathinka und ihrem Mann, die sich bestenfalls graduell unterscheiden von dem, was die Elterngeneration zu Stützen des SED-Staates gemacht hatte. So recht beruhigen will das nicht.
Zwiespältig schließt der Blogbeitrag, nicht nur, weil das Gefühl bleibt, man könnte und müsste noch viel mehr zu dem Roman sagen. Auch wenn andere Leseerfahrungen nachvollziehbar erscheinen, so war – um an den eingangs artikulierten Gedanken anzuknüpfen – die eigene doch zu keinem Zeitpunkt durch Langeweile geprägt. Am Ende eher durch ein Bedauern, nicht zu erfahren, wie es mit den jungen Leuten nach 1990 weitergeht. Zurück bleiben Bewunderung, Respekt, Zweifel und Fragen. Zu den beiden erstgenannten gehört allein schon die reine Stoffbewältigung, außerdem die angelegte Figurenkonstellation und die Entwicklung der individuellen Geschichte(n). Aber: Ist diese Art des chronikalen Erzählens, in der die Erzählstimme weder als Verteidiger, noch als Ankläger, noch als Richter in Erscheinung treten möchte, dem Stoff angemessen? Und das auch noch in dieser schmucklosen, (manchmal allzu) schlichten Sprache? Kann man das Scheitern der DDR darauf reduzieren, dass die stalinistischen Wurzeln nie überwunden werden konnten und zu oft, nahezu fortwährend gravierende ökonomische Fehlentscheidungen getroffen wurden? Ist Anpassung bis zur unbewussten Selbstaufgabe ein systemunabhängiger Automatismus?
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Fragen sind keineswegs rhetorischer Natur.
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2025.