Rund 300 Seiten, gelesen in mehr als zwei Wochen, im Durchschnitt also kaum mehr als 15 Seiten pro Tag. Dazu meistens auch erst abends, zum größten Teil im Bett, müde, vor allen Dingen dann, wenn die Augen zuzufallen drohen, kaum noch konzentriert. Details werden dann nur noch verschwommen wahrgenommen, ab und an ist es sogar schwer, sich beim Wiederaufschlagen an den Handlungsfaden zu erinnern. Wann, und diese Frage drängt sich dann vehement auf, hat man den Punkt erreicht, an dem das Schreiben über das Buch fragwürdig wird. Schreiben mit dem Anspruch, dass das, was man glaubt zu sagen zu haben, auch noch haltbar ist, so haltbar, dass es eines Austauschs abweichender Leseeindrücke oder einer Überprüfung noch wert wäre. Kann man also über ein Buch mit Ernsthaftigkeit sprechen, dass man unter weitreichender Wahrnehmungsmüdigkeit gelesen hat? Müdigkeit ist nicht nur literarisches Thema und Topos zugleich, sie ist auch, und das sollte man sich eingestehen, Bestandteil der Rezeption. Wer sitzt schon immer am Schreibtisch, aufrecht, orthopädisch korrekt, aufmerksam, konzentriert, zur Linken die Tasse Kaffee, zur Rechten der Bleistift? WIe leseunfreundlich wäre auf Dauer das denn? So ist es letztlich Versuch, nicht ein Versuch über die Müdigkeit, sondern sie mitzudenken in der Schilderung der Leseeindrücke.
Was bleibt? Am Ende ein Buch, dessen Lektüre man mehrfach abbrechen wollte, für das man schon einen kurzen Text für einen Beitrag zu den abgebrochenen Leseerfahrungen am Jahresende im Kopf zu formulieren begonnen hatte, das man schließlich doch zu Ende gelesen hat. Warum eigentlich? Darin steckt sicherlich ein Stück Eigendynamik. Irgendwann ist man so weit vorgedrungen, dass man, ohne einen bewussten Gedanken daran aufzuwenden, auch zu Ende lesen will. Wenn ich schon auf Seite 210 bin, kann ich auch die letzten 90 Seiten noch mitnehmen. Aber da ist auch so etwas wie Erwartung, nämlich die, dass das, was mit so feiner Genauigkeit im Sprachlichen erzählt , was in beeindruckenden literarischen Bildern entfaltet wird und dabei exotisch und abschreckend zugleich wirkt, endlich auch einmal interessieren mag. Eine Erwartung, die bis zum Ende nicht erfüllt wird.
Das sei kein Vorwurf. Wenn eine Geschichte erzählt wird, die im chinesischen Kaiserreich im 18. Jahrhundert spielt, nicht auf Interesse stößt, liegt das nicht zwangsläufig an der chinesischen Geschichte oder an der Erzählung. Und wenn es da eine Hauptfigur gibt, den Uhrenbauer Alister Cox, der in einer Art befremdet, die dazu führt, dass man eigentlich von ihm nicht mehr wissen will, so liegt auch das nicht zwangsläufig an schlecht gelungener Figurenzeichnung, sondern vielleicht auch an ermattetem Wahrnehmungsvermögen oder unzureichendem Wahrnehmungswillen.
Ein merkwürdiger Mann, dieser Alister Cox. Ihn als Uhrmacher zu bezeichnen, wäre eine unpassende Beschreibung dessen, was er eigentlich schafft – und das im großen Stil. Über 900 Uhrmacher arbeiten für ihn in einer Reihe von Manufakturen, die über England verstreut sind. Was da gebaut wird, übersteigt die Vorstellungskraft eines Laien von Uhren, selbst dann, wenn er nicht auf sein Handgelenk schaut, sondern an die großen Zeitanzeiger auf öffentlichen Plätzen denkt. Die aus den Cox’schen Werkstätten sind mechanische Großautomaten der Zeitmessung von höchster Präzision und übertragen auf Installationen, die von ebenso großer künstlerischer wie kunsthandwerklicher Fähigkeiten zeugen. So ist Alister Cox als überall gefragter Architekt und Ingenieur der Zeitmessung ein Mann, den man heutzutage als renommierten Global Player bezeichnen würde, insofern solche Bezeichnungen noch auf Einzelpersonen und nicht nur auf anonyme Konzerne zutreffen.
Nur wenig erfährt man über sein Privatleben, aber das Wenige genügt: ein liebender Mann, seine Frau Faye, vor allem seine Tochter Abigail. Aber diese Liebe hat etwas Besitzergreifendes, Übergriffiges, Rücksichtsloses, das keinerlei Sympathie aufkommen lässt für ihn. Auch Mitleid will sich nicht so recht einstellen, als die Tochter fünfjährig an Keuchhusten stirbt und er ihr ein Uhrendenkmal baut, das jedes Maß verloren zu haben scheint.
Sein Ruf als Uhrenbauer und der Tod Abigails sind es auch, die ihn schließlich nach China führen. Der Kaiser von China, Qiánlóng, „hatte gefragt“, wie es auffallend lapidar heißt. So begibt er sich auf eine siebenmonatige, gefahrvolle Schiffsreise, um Arbeitsbedingungen zu finden, die es woanders nicht gibt, und Ressourcen, die unerschöpflich zu sein scheinen. Aber dafür betritt er mit seinen Gefährten eine vollkommen fremde Ziviisation und kollabaroriert mit der Macht, einer Macht, die in jedweder Hinsicht unvorstellbar ist. Denn der Kaiser ist ein weithin Unsichtbarer, dem man sich nur verneigt nähern darf, den anzuschauen bei schlimmster Strafe verboten ist, der nicht nur mit einem Fingerschnipsen über Leben und Tod entscheidet, sondern der auch die Jahreszeiten aussetzen kann, also auch herrscht über die Zeit, die im Reich der Mitte gilt.
Als Qiánlóng schließlich den Auftrag erteilt, eine Uhr zu bauen, die die Dauer der Ewigkeit messen soll, und Cox sich auf diesen Auftrag einlässt, wird deutlich, dass sich hier zwei Maßlose begegnen, die sich so unähnlich gar nicht sind, bei allem, was sie entfernt. Dazu gehört auch, dass sich Cox in die Lieblingskonkubine des Kaiser verliebt, die das Bild seiner Tochter nicht schwinden, sondern immer lebendiger werden lässt.
Wahrnehmen kann man diese Figurenkonstellation aber auch als Klischee, so gut auch, so bis in die Beobachtung feinster Gesten genau das alles erzählt wird. Ohnehin, das stereotype Bild des kaiserlichen Reichs der Mitte, es schwand nicht beim Lesen. Die Zivilisationsdifferenz zwischen europäischer und chinesischer Mentalität wurde beim Lesen so wahrgenommen, wie man sie sich vorstellt (als Europäer) – bis hinein in die Schilderung brutalster Bestrafungsaktionen, die man sich nicht vorstellen will und deren genaue Beschreibungen in ihrer erzählerischen Funktion nicht ganz einleuchten.
Am Ende erfährt der Roman noch eine interessante Wendung, die zu tun hat mit dem Umgang mit Zeit, einer Frage von durchaus metaphysicher Dimension, die leitmotivisch den Roman durchzieht. Dennoch bleibt man schließlich gegenüber dem Erzählten gleichgültig zurück und fragt sich: Was soll’s? Aber vielleicht hat man ja nur etwas verschlafen.
Christoph Ransmayr:: Cox oder Der Lauf der Zeit. Roman. – Frankfurt /M.: S. Fischer Verlag 2016 (22.- €).
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