Ein Fontanegedicht zu Weihnachten

An Emilie
Zum 24. Dezember 1891

Noch einmal ein Weihnachtsfest,
Immer kleiner wird der Rest,
aber nehm ich so die Summe,
Alles Grade, alles Krumme,
Alles Falsche, alles Rechte,
Alles Gute, alles Schlechte –
Rechnet sich aus all dem Braus
Doch ein richtig Leben raus,
Und dies können ist das Beste
Wohl bei diesem Weihnachtsfeste.

Theodor Fontane: Gedichte. Große Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Gotthard Erler. Band 3. – Berlin: Aufbau Verlag 1995, S. 271.


Kein winterlicher Wald, kein einzelner Tannenbaum, nicht einmal ein Zweig. Keine winterliche Naturerfahrung, kein Schnee, keine Glockenklänge, kein Kind in der Krippe, überhaupt keine christlichen Bilder und Symbole. Es ist vielleicht gar kein Weihnachtsgedicht, erst recht nicht in einem engen Sinne. Es ist, wie der Titel des Blogbeitrags zu verstehen geben will, ein Fontanegedicht zu Weihnachten; also etwas Anlassbezogenes, worauf dessen Untertitel auch hinweist, ein Gelegenheitsgedicht.

Blättert man die drei Bände der Großen Brandenburger Ausgabe durch, gewinnt man schnell den Eindruck, dass Fontane in den lyrischen Genres in erster Linie nicht der große Balladenautor war, als den wir ihn vielleicht schon als Schülerinnen und Schüler kennengelernt haben. Er war außerhalb dieser Gattung wohl auch nicht der begnadete Lyriker, der über ein ausgesprochen breites Formenrepertoire verfügte. Da waren ihm nicht nur seine Vorbilder, da war ihm auch ein Zeitgenosse wie Conrad Ferdinand Meyer über. Fontane war bis ins hohe Alter vor allem ein Gelegenheitsgedichteschreiber.

Das hat, wie das Gedicht an seine Frau zeigt, überhaupt nichts Despektierliches. Lesen lässt sich dieses Gedicht zunächst als Resümee eines wechselvollen Jahres. Emilie wird die versteckten Anspielungen mit Sicherheit verstanden haben. 1891 hatte dem Autor und seiner Frau einiges an Unruhe, aber ebenso an erfreulichen Entwicklungen geschaffen. Unwiederbringlich war erschienen und hatte viel positive Resonanz erfahren. Irrungen, Wirrungen ging in die zweite Auflage, was den Kritikern dieser vermeintlichen „Hurengeschichte“ nun endgültig das Wasser abzugraben schien. Im April hatte Fontane den Schiller-Preis erhalten, der eine jährliche Pension von 3000 Reichstalern auf Lebenszeit mit sich brachte und Fontanes dauerhaft sorgenvollen Blick auf die Familieneinnahmen nicht unerheblich entlastete. Andererseits hatte es im Bekannten- und Feundeskreis eine Reihe von Todesfällen gegeben, die die Familie, insbesondere auch seine Frau Emilie berührten und belasteten. Fontane hatte zudem seine Frau auf ziemlich fragwürdige Weise im Stich gelassen, als weitreichende Renovierungsarbeiten am Haus, in dem die Familie wohnte, notwendig wurden und er sich ans Meer verzog. Nicht zum ersten Mal ließ er sie mit den Alltagsbelastungen allein.

Ohnehin scheint es der fünf Jahre jüngeren Emilie im Jahr 1891 gesundheitlich schlechter gegangen zu sein als dem mittlerweile fast 72-jährigen. Zu schaffen machte ihm allerdings ein Antisemitismusskandal in der Vossischen Zeitung. Dabei spielten Redaktionsinterna eine Rolle, die wer? – genau: Fontane, wohl in einem Moment von Unbedachtsamkeit und Naivität ausgeplaudert hatte. Seine Indiskretionen waren sicherlich nicht bösartig, sondern einfach nur dämlich, strapazierten aber seine freundschaftliche Verbundenheit zu Carl Rudolf Lessing, einem Mitherausgeber der Vossischen Zeitung, schwer. Über Monate und über eine ganze Reihe von Entschuldigungsbriefen hin versuchte Fontane das Verhältnis wieder gerade zu biegen. Das gelang zwar im Laufe des Folgejahres 1892 weitgehend, belastete ihn aber erheblich. Auch die Arbeit an Effi Briest, die 1891 begonnen hatte, strengte zunehmend an. Rückblickend kann man sicherlich sagen, dass sich Ende dieses Jahres Anzeichen einer gesundheitlichen Krise erkennen ließen, die im folgenden Jahr voll durchschlagen sollte.

Davon findet man im Gedicht zum 24. Dezember 1891 ziemlich wenig. Da man Fontanes Wesen ausgeprägte Lamentierkompetenzen nicht absprechen kann, überrascht der in Dur gehaltene Grundakkord des Gedichts an seine Frau fast ein wenig. Dabei präludieren die beiden ersten Verse doch recht melancholisch. Viele Weihnachtsfeste scheint der Sprecher, den ich mich entgegen strenger Interpretationsregeln mal mit dem Autor gleichzusetzen traue, offensichtlich nicht zu erwarten. Hätte ein Orakel ihm geflüstert, es würden noch sechs weitere folgen, hätte er ihm wahrscheinlich nicht geglaubt. So hat es zumindest den Anschein. Dass der Kreis der Nahestehenden enger wird, wird ganz bewusst festgehalten. Dem wird allerdings schon im dritten Vers ein Trotzdem entgegengesetzt, dass sich aus der „Summe“ alles Ereigneten ergibt, eine Summe, in der sich aus Habet und Debet ein „richtig Leben“ ‚rausrechnen‘ lässt. Das „Aber“ nimmt die Traurigkeiten ebenso in den Blick wie das Schöne und Gelungene und bindet sie im Wesentlichen nicht an Fakten, sondern an ethische Kategorien: das Falsche, das Rechte, das Gute, das Schlechte. Damit geht es dann weniger um Verfehlungen und Meriten, um Schicksalsschläge und glückliche Fügungen, sondern um den Umgang damit. Das eigene Leben auf diese Weise als „richtig“ wahrnehmen zu können, ist wohl in der Tat „das Beste“ – wer mag da widersprechen? -, was widerfahren kann.

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern meines Blogs frohe Weihnacht, eine schöne Zeit zwischen den Jahren und für 2020 alles erdenklich Gute.

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