Gøhril Gabrielsen: Die Einsamkeit der Seevögel

Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist klar und konkret,
ich muss mich nur auf Fakten konzentrieren. […]
Der Anblick ist überwältigend. Hier sind wir.
Ich und die Elemente in der Welt. Vereint.

Schnörkelloser ist der Titel des Romans im norwegischen Original: „Ankomst“, wohl am schlichtesten und dennoch richtig mit ‚Ankunft‘ übersetzt. Im deutschsprachigen Titel Die Einsamkeit der Seevögel verbirgt sich im sprachlichen Bild hingegen ein Paradox. Die Metapher weist auf eine Empfindung, von der angenommen wird, dass sie auf den emotionalen Haushalt von Tieren übertragen werden kann. Das allein ist schon eine ziemlich kühne und hinterfragbare Annahme. Sie wird durch einen weiteren Umstand noch erstaunlicher. Einsamkeit geht einher mit dem Gefühl sozialer Isolation und beschreibt somit immer die Situation eines Einzelnen. Dass gleich eine ganze Gruppe, Seevögel nämlich, einsam sein soll, macht schon stutzig.

Trotzdem kann man den Titel des Romans nicht mit einem vorschnellen Urteil als misslungen bezeichnen. Dass hier eine Formulierung der Ich-Erzählerin aufgenommen wird und deshalb zum Romantitel anvanciert, ist zwar nicht erinnerlich, würde aber zu ihr passen. Denn sie besitzt die sprachmächtige Fähigkeit, die Außenwelt, die eigenen Wahrnehmungen, die Erinnerungen und eigene Gefühle präzise zu beschreiben. Aber sie erweisen sich, zunächst auf den zweiten Blick, im Laufe des Romans immer offensichtlicher als verstörend verzerrt. Das gilt auch für das ausgewählte Eingangszitat. In einem einzigen Gedankengang, der sich über knapp eine Druckseite und insgesamt zwei Absätze erstreckt, kippt die Naturdarstellung von der bloßen, an Fakten orintierten Naturbeobachtung zur distanzlosen Naturverschmelzung.

Mag sein, dass in der Landschaft, in der das geschieht, die Schwelle zu einer solchen Erfahrung sehr niedrig ist; in der das handelnde Subjekt zu schwinden, ja sich aufzulösen droht. Der Roman spielt am nördlichsten Zipfel Norwegens, in der Finnmark, nebenher erwähnt der Heimat der Autorin. Dorthin hat sich die im ganzen Roman namenlos bleibende Ich-Erzählerin für ein Forschungsprojekt schicken lassen, um die Folgen des Klimawandels für die Seevögelpopulation zu untersuchen. Die Forschungsstation ist nicht mehr als eine mit für die Arbeit notwendigen Instrumenten und Hilfsmitteln ausgestattete Fischerhütte, die nächste Ansiedlung mehr als 100 Kilometer entfernt, die Versorgung offenbar nur auf dem Seeweg möglich, zumindest in den Wintermonaten. Wäre nicht selbst dort GPS-Empfang möglich, gäbe es nicht Skype und das Internet, die den Kontakt zur zurückgelassenen Welt ermöglichen, so könnte man beinahe annehmen, man lese eine moderne Robinsonade. Das ist der Roman nicht. Aber er ist es in erster Linie deshalb nicht, weil der Kompass der Robinsonade bei allen Hindernissen und existenziellen Grenzerfahrungen auf Rückkehr gepolt ist. Das gilt für den Defoeschen Urtypus ebenso wie für die moderne Adaption, Robert Zemeckis „Cast away“ (2000) etwa, mit Tom Hanks in der Hauptrolle. Hier aber liegt mit Die Einsamkeit der Seevögel das Dokument einer Ankunft vor, „Ankomst“ eben. Wo sie endet, diese Ankunft, lässt der Roman am Schluss offen. Bedrückend, verstörend jedoch ist es allemal.

Bei aller Glaubwürdigkeit der wissenschaftlichen Ambitionen entpuppt sich der Weggang der Ich-Erzählerin aus der Zivilisation zunehmend auch als Flucht aus den privaten Verhältnissen und Verstrickungen, die sie zurückzulassen versucht, die sie in ihren Erinnerungen aber zunehmend bedrängen. Die Forschungsaufgabe am Nordkap ermöglicht ihr, die Ehe mit einem gewalttätigen Mann, der immer nur S. genannt wird, hinter sich zu lassen. Sie lässt aber zugleich auch ihr Kind zurück. Und je weiter der Roman fortschreitet, je mehr die Leserin und der Leser in den Rückblenden über die Motivlage der Frau erfahren, desto fragwürdiger, und zwar auch in moralischer HInsicht, erscheint ihr Handeln. Ohne Zweifel haben wir es von der ersten Seite des Romans an mit einer faszinierenden Frauenfigur zu tun, der wir dort im ganz hohen Norden und in ganz unwirtlichen Bedingungen begegnen. Aber es ist zugleich eine Figur, die immer mehr an Sympathien einbüßt.

Geradezu gegenläufig entwickelt sich das Bild, das sich vom Freund aufgrund der Schilderungen in den Vorstellungen der Leserschaft zeichnet. Sehr früh erfährt man, dass er, Jo, der Ich-Erzählerin nachreisen soll, um die Forschungsarbeit zu unterstützen. Doch von Skype-Gespräch zu Skype-Gespräch verschiebt er die geplante Ankunft in der Finnmark immer weiter nach hinten. Drängt sich zunächst und für geraume Zeit der Eindruck auf, seine Gründe seien vorgeschoben, so wird doch immer deutlicher, dass die Sorge um die Betreuung und den direkten Kontakt zu seiner Tochter ernstzunehmen und begründet sind. Während die Ich-Erzählerin also mit doch zunehmend befremdlich werdender Gleichmut ihr Kind zurücklassen kann, kommt Jo von seiner Tochter nicht weg. Ob er nicht doch am Ende des Romans vor der Tür der Fischerhütte steht, bleibt offen.

Das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern bildet sich auch im dritten Erzählstrang als Leitmotiv ab. In einer heimatgeschichtlichen Broschüre, die die Ich-Erzählerin in der Fischerhütte findet, stößt sie auf die Geschichte des Ehepaars Olaf und Borghild Berthelsen, die an dem Ort, an dem sie sich jetzt befindet, gelebt haben. Bei einem Brand im Jahr 1870 verlieren sie nicht nur ihr Anwesen, sondern, viel schlimmer, den einzigen Sohn von insgesamt sechs Kindern. Ursache des Brandes war zwar eine Verkettung unglücklicher Umstände, aber eben auch eine Unaufmerksamkeit der Ehefrau. Immer mehr beschäftigt sich die Ich-Erzählerin mit der Ehegeschichte, immer deutlicher malt sie sich aus, wie deren Leben in dieser Einöde aussah, immer intensiver setzt sie sich mit der Frage auseinander, wie sehr der Tod des Sohnes die Ehe und das Paar veränderte. Akribisch malt sie sich in ihren Vorstellungen aus, wie die stillen Vorwürfe des Mannes und die Schuldgefühle der Frau die Liebe zum Erliegen bringen und sie gleichzeitig an diesen Ort bindet.

Dabei verwischen sich für die Hauptfigur die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, partiell auch durchaus Wahn immer mehr, zwischen der Gegenwart des Forschungsauftrags, des Naturerlebens, der Sehnsucht und der Selbstrechtfertigung auf der einen Seite und der Vergangenheit des Ortes wie der eigenen Lebensbezüge auf der anderen Seite, deren Spuren nicht auszulöschen sind. Gøhril Gabrielsen hat mit Die Einsamkeit der Seevögel einen bedrückend beeindruckenden Roman vorgelegt. Man wünscht sich, weitere Romane der Norwegerin in deutscher Übersetzung kennenlernen zu dürfen.


Gøhril Gabrielsen: Die Einsamkeit der Seevögel. Roman. Aus dem Norwegischen von Hanna Granz. – Berlin: Insel Verlag 2019.

Nachlese:

Mein Dank gilt Contanze Matthes, die auf ihrem Blog Zeichen & Zeiten den Roman vorstellte. Ohne ihren Hinweis hätte ich das Buch nicht wahrgenommen.

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