Peggy Mädler: Legende vom Glück des Menschen

Ich bin mir nicht sicher, ob man von einem Tag,
der vergangen ist, noch etwas anderes
wissen kann – als eine Geschichte.

Auf dem Umschlag mäandert ein blaues Garnknäuel durch das Bild und verbindet Vorder- und Hintergrund. Drei FIguren befinden sich auf der Linie, die der Faden beschreibt. Die Frau mit dem Koffer im Hintergrund wendet dem Betrachter den Rücken zu und scheint das Bild nach hinten verlassen zu wollen. Den Mann in der Mitte sehen wir im Profil, als er sich anzuschicken scheint, am rechten Rand aus dem Bild treten zu wollen. Von der jungen Frau im Vordergrund, die im Augenwinkel nach hinten blickt, sehen wir nur deren Kopf, ganz groß, aber doch so, dass man auch hier eine Bewegung wahrnehmen kann, offensichtlich nach vorne. In diesem Umschlagbild deutet sich die ganze Geschichte von Peggy Mädlers ersten Roman Legende vom Glück des Menschen von 2011 an.

Ein weiteres fällt auf, wenn man weiß, wie die Autorin ausschaut oder wenn man ihr Foto auf der hinteren Umschlagklappe betrachtet: Zwischen ihr und der Frau im Vordergrund des Umschlagbildes gibt es frappante Ähnlichkeiten, zugleich aber doch dergestalt, dass Unterschiede wahrnehmbar bleiben. Das Bild zeichnet kein Porträt Peggy Mädlers. Identität und Abweichung, Schnittmenge und Divergenz, Geschichte und Erfahrung – das sind die Themen, mit denen sich der Roman beschäftigt, und in deren Ausgestaltung das reflektierende Schreiben die Membran bildet in der Osmose von Fiktion und außerliterarischer Wirklichkeit.

Diese stetige Verwobenheit zeigt sich sehr schön an dem Requisit, das wohl den Schreibanlass für dieses Buch geboten hat. Im Roman findet die Ich-Erzählerin Ina einen offensichtlich niemals aufgeschlagenen Fotoband im Bücherregal des verstorbenen Großvaters. Es handelt sich um eine Art Propagandabuch aus dem sozialistischen Leben der DDR mit dem Titel „Vom Glück des Menschen“, herausgegeben unter anderem von Karl-Eduard von Schnitzler, dem Moderator der Sendung „Der schwarze Kanal“, einem Agitator und Ideologen der schlimmsten Sorte.  Verliehen bekommen hatte der Großvater es für seine Verdienste für den staatlichen Einzelhandel, gelesen hat er es wohl nie.

Das Buch gibt es natürlich und kann für wenig Geld immer noch antiquarisch erstanden werden. Ein Blick auf den Schutzumschlag reicht aber, um sich vorstellen zu können, was den Leser erwartet: Bilder sozialistisch legitimierten und staatlich verordneten Glückserlebens. Peggy Mädlers Eltern besaßen dieses Buch, nicht, wie im Roman, die Großeltern. So dokumentiert sich in diesem Umstand ein Erzählverfahren der jungen Autorin: Leichte Verschiebungen im biographischen Material verändern Perspektiven nicht bloß, sondern machen sie erst möglich, etwa so, dass die Geschichte der Großeltern erzählbar und deren Haltung zum Staat, in dem sie leben, anschaulich wird.

Der Aufbau von Legende vom Glück des Lebens orientiert sich am Kapitelaufbau dieses Fotobands, der das Bildmaterial thematisch sortiert nach den Aspekten „Glück der Freiheit“, „Glück der Arbeit“, „des Miteinanders“, „des Lernens“, „des Friedens“, bezeichnet es aber jeweils als „Legende“. Damit dekonstruiert Peggy Mädler das ideologische Konstrukt, aber nicht um es bloßzustellen, sondern um es befragbar zu machen. Diese Befragung richtet sich dabei auf das Spannungsverhältnis zwischen kollektiver Geschichte, auch Geschichtsbewusstsein und individueller Erinnerung. Sie geht dabei der Lebensgeschichte dreier Generationen nach, die in drei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen sich haben einrichten müssen. Die verbindende Klammer zwischen den Großeltern, den Eltern und der eigenen Generation der Ich-Erzählerin Ina und ihres Bruders Thomas liegt in dem Bemühen, Lebenszusammenhänge zu gestalten, die individuelle Möglichkeiten zum Glück eröffnen. Gewiss ist dabei nur, dass es die verordneteten Angebote ganz sicher nicht sind.

Anschaulich und in pointiert gesetzten Bildern erzählt Peggy Mädler vom Leben der einzelnen Figuren und zeigt schon in ihrem Erstling, dass sie dazu keine ausgreifenden erzählerischen Räume öffnen muss. Mag sein, noch nicht ganz so souverän wie in ihrem, 2019 mit Fontanepreis gekürten Roman Wohin wir gehen, gelingt es ihr dennoch eindrucksvoll, die Lebensweisen und Herausforderungen im Generationenvergleich deutlich herauszuarbeiten. Lesenswert ist das allemal!

Das gelingt ihr auch deshalb, weil sie immer wieder eine zweite Ebene in die Erzählung einfließen lässt, nämlich das schreibende Nachdenken über das, was Erinnerung und ihre Spannung zur Geschichte denn ausmacht. Sie befragt ihren Stoff, rückt ihn in Distanz und prüft, ob, was vorgestellt und erinnert wird, haltbar und in der Art der Darstellung zutreffend ist.

Und doch sehe ich manchmal keine andere Möglichkeit, als den Kopf im Umgang mit Gleichzeitigkeiten zu trainieren, mit dem, was man eine private und eine kollektive Geschichte nennt, ihm die unterschiedlichsten Bilder und Sichweisen wie Gewichte aufzulegen, um überhaupt von der Schaukel erzählen zu können, um unter anderem von ihr zu erzählen.

Der Romantitel erzeugt zwar spontan Assoziationen, die ihn in die Nähe rücken zu Ulrich Plenzdorfs „Legende vom Glück ohne Ende“ (1979). Sie greifen aber weder inhaltlich, noch erzählgestalterisch wirklich. Literarisch erinnert Legende von Glück des Menschen viel mehr an Verfahren, die den Romanen und Erzähungen Christa Wolfs eigen sind. Hier wie da, wird anschaulich deutlich gemacht und in seinen ästhetischen Konsequenzen bedacht, dass „die Farbe der Erinnerung trügt“ (Christa Wolf), dass das Schreiben im Bezug zur eigenen Geschichte Gestaltungsräume zu schaffen vermag, in denen erst Zukunft möglich wird. Peggy Mädlers Roman ist dabei aber weniger schmerzdurchzogen als doch eine ganze Reihe von Texten Christa Wolfs, weniger ernüchtert, weniger melancholisch, weniger larmoyant. NIcht von ungefähr scheint die junge Frau auf dem Umschlagbild ihren Weg nach vorne fortzusetzen.


Peggy Mädler: Legende vom Glück des Menschen. Roman. – Berlin: Verlag Galiani 2011.

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