Der Junge, den es nicht gab,
- heißt Máni Steinn, wird aber im Roman durchgängig nur als „der Junge“ bezeichnet,
- ist im Jahr 1918, in dem die Handlung im Wesentlichen zeitlich spielt, sechzehn Jahre alt,
- verbrachte seine frühe Kindheit weithin auf einer Leprastation bei Reykjavik und musste erleben, wie seine Mutter an der Krankheit verstarb,
- wurde dann aufgenommen und liebevoll großgezogen von einer alten Frau, die behauptete, in einem weitläufigen verwandschaftlichen Verhältnis zu ihm zu stehen,
- wächst in ärmlichen Verhältnissen auf,
- kommt zu Geld, indem er sich, seiner eigenen homosexuellen Neigung folgend, an Männer prostituiert,
- ist ausgesprochen fasziniert von einem etwa gleichaltrigen Mädchen, das ein Motorrad fährt; eine Faszination ohne sexuelles Interesse,
- wird schließlich beim Sex mit einem Mann erwischt und auf dubiose Weise aus Island ausgewiesen,
- lebt seither in London und kommt 11 Jahre nach seinem Weggang zurück nach Reykjavik.
Man mag sagen: Und dennoch …
Und dennoch bleibt dieser Junge merkwürdig gesichtslos. Er wirkt wie ein Schatten oder sogar wie der Widergänger eines Schattens, der sich durch Reykjavik bewegt. Dass er im von den Weltläuften entfernten Island das Ende des 1. Weltkriegs bestenfalls als Nachricht wahrnimmt, kann man noch nachvollziehen. Aber auch der gewaltige Ausbruch des Vulkans Katla am 12. Oktober 1918 weckt kaum sein Interesse. Er ist weder fasziniert vom Naturschauspiel, noch macht er sich Sorgen um mögliche Gefahren. Mehr noch gilt diese offensichtliche Teilnahmslosigkeit für den Ausbruch der Spanischen Grippe. Diese Epidemie kostete weltweit mehr Tote als der zu Ende gegangene Weltkrieg und wütete auch in Island. Der Junge erkrankt selbst schwer, erholt sich wieder, arbeitet schließlich einige Zeit in einem Sanitätshilfsdienst und kümmert sich mit um die riesige Zahl an Kranken und Dahinsterbenden. Doch auch das tut er nur – so hat es den Anschein – um mit dem Mädchen zusammen sein zu können. Das Einzige, was ihn wirklich fasziniert und emotional beeinflusst, ist das Kino. Er ist ein regelmäßiger Kinogänger. Die Schilderungen seiner Kinoerlebnisse entwerfen ein Panorama des zeitgenössischen Stummfilms und lassen die Atmosphäre in den Lichtspielhäusern aufleben, in denen zu den bewegten Bildern live Musik gemacht wurde.
Der Vulkanausbruch, die Grippeepidemie, aber auch die namentliche Nennung vieler Stummfilme der Zeit verorten den kurzem Roman historisch ausgesprochen genau. Diese Genauigkeit findet ihren Höhepunkt, als sich der Junge bei den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit Islands von Dänemark am 1. Dezember 1918 während der öffentlichen Feierlichkeiten mit einem dänischen Soldaten einlässt und, wie erwähnt, beim Sex erwischt wird.
Was auf wenigen Seiten folgt, ist die Schilderung des hilflosen Versuchs, mit dieser ‚Ungeheuerlichkeit‘ umzugehen. Dass sich ausgerechnet einer seiner „Kunden“ zum lautstarken Befürworter einer Lynchjustiz aufschwingt, verwundert nicht wirklich. Die Ausweisung des Jungen aus Island ist zweifellos Ausdruck breiter und tief sitzender Intoleranz gegenüber Homosexuellen, rettet aber sein Leben.
Im letzten Kapitel kehrt der Junge elf Jahre später, also 1919, wegen Dreharbeiten zu einem neuen Film nach Island zurück, unerkannt. Er hat in er Zwischenzeit in London eine Ausbildung gemacht und ist mittlerweile als Kameraassistent ein gefragter Mann in der Kinobranche. Er besucht Orte seiner Kindheit, sein Blick auf die Vergangenheit ist versöhnlich – und mündet, so merkwürdig es sich anhören mag, in die erzählerische Auflösung der Figur.
Sjóns kleiner Roman, den man in wenigen Stunden in einem Zug lesen kann, ist schon mehrfach gelobt worden. Betont werden die Kraft seiner poetischen Bilder und die Eindringlichkeit seiner Darstellung. Die literarische Qualität des Textes ist nicht zu leugnen; das Ausdrucksrepertoire, über das der Autor souverän verfügt, um Drastisches drastisch und Zartes zart erzählerlich vermitteln zu können, ist beeindruckend. Und dennoch bleibt Máni Steinn stets der schon erwähnte Schatten seiner selbst, eine blutleere Leerstelle im Text – mag sein, weil es den Jungen nie gab.
Sjón: Der Junge, den es nicht gab. Roman. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2015 (17,99 €)