Heinz Rein: Finale Berlin

Sagen wir es gleich vorweg: Dass der Autor literarisch Figuren zeichnen könne, die stereotype Denk- und Verhaltensmuster hinter sich lassen und individuelle Charaktere darstellen, kann man eigentlich schon nach den ersten 30-40 Seiten dieses fast 760 Seiten dicken Romans bei allem guten Willen nicht mehr behaupten. Und am Ende der Lektüre bleibt dieser Eindruck auch weiterhin haften. Doch dann man hat diesen „Ziegel“ von Buch zu Ende gelesen, war schlimmstenfalls passagenweise ein wenig gelangweilt, aber immer nur so wenig, dass man doch weiter lesen wollte. Und das alles trotz der Möglichkeit, auf Krimi-Lektüre-Manieren zurückzugreifen und die letzten Seiten zu überfliegen. Wie es ausgeht, hätte man auf diese Weise durchaus und zumindest im Groben erfahren können.

Die historische Lage, die der Roman beschreibt, ist ohnehin klar und gibt den Handlungsrahmen vor. Er beginnt am 14. April 1945 und endet knapp drei Wochen später. Am Schluss fährt ein Lautsprecherwagen durch die Straßen Berlins, zumindest durch die, die man noch befahren kann, und verkündet die Kapitulation der Hauptstadt am 02. Mai 1945, also knapp eine Woche vor der endgültigen und vollständigen Kapitulation Deutschlands. Es ist ein grausiges Finale, das sich in dieser Zeit in und um Berlin ereignet. Und wer sich eine Vorstellung bilden will, konkreter als das, was Geschichtsbücher eher nüchtern und analytisch vermitteln, und erfahren will, was es denn bedeutet, dass sich eine Großstadt im „Endkampf“ befindet, wie es die Nazis und ihre Büttel pathosberauscht und zynisch bis zum Schluss nannten, der darf, ja der sollte zu diesem Roman greifen.

Ein Roman ist es, kein Geschichtsbuch. Der junge, an der Ostfront desertierte Soldat Joachim Lassehn hat sich Mitte April 1945 irgendwie nach Berlin durchgeschlagen und trifft in der Kneipe von Oskar Klose auf eine kleine Widerstandsgruppe. Zu dieser Gruppe gehört neben dem Wirt der Gewerkschafter Friedrich Wiegand, der Terror und Folter des KZs kennengelernt hat, jetzt unter falschem Namen in Berlin lebt und, ganz allein auf sich gestellt, Sabotageakte verübt, um das Kriegsende zu beschleunigen. Der Arzt Walter Böttcher, ebenfalls Mitglied dieser Gruppe, hilft Untergetauchten. Im Laufe des Romans tritt ihnen schließlich der radikale Kommunist Schröter zur Seite. Mit diesen vier Figuren erzeugt der Autor ein Tableau sozialdemokratischer und sozialistischer Haltungen und Weltsichten, die im Roman unter den Figuren immer wieder zu Diskussionen um den richtigen und angemessenen Weg führen. Diese Gespräche sind bisweilen etwas langatmig, sie klingen nicht selten wie von der Kanzel gesprochen und sie lassen die Figuren, wie schon erwähnt, holzschnittartig erscheinen. Der junge Lassehn wirkt unter diesen Männern hingegen recht naiv, manchmal auch allzu unbeholfen, geprägt durch einen bildungsbürgerlich gesättigten Humanismus, der angesichts der nationalsozialistischen Barbarei keine Heimat mehr hat. An ihm zeigt der Autor einen Prozess der inneren und äußeren Wandlung, lässt am Ende aber offen, wie es mit ihm weitergeht.

Daneben greift der Roman auf eine Vielzahl von Figuren zurück und entwickelt eine Reihe von Nebenhandlungen, um die Grauen dieses Krieges deutlich zu machen, den Kadavergehorsam der Mitläufer zu entlarven und die menschenverachtende Haltung zahlreicher Nazi-Schergen zu entblößen. In diesen Passagen ist der Roman, wie Fritz J-. Raddatz im Nachwort zurecht schreibt, niemals Klage, umso mehr aber eine große Anklage gegen die Unmenschlichkeit.

Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist aber, wenn man sie so bezeichnen darf, jemand anders: Berlin. Rein gelingt es in einer Weise, die beeindruckt, den Prozess der zunehmenden totalen Zerstörung der „Hauptstadt des Deutschen Reiches“ darzustellen. Mag sein, dass im Detail die erzählerischen Zusammenhänge den historischen Tatsächlichkeiten der letzten Kriegswochen nicht immer entsprechen. Aber es gelingt, dem Leser bewusst zu machen, dass der Zerstörungsgrad der Stadt in dieser kurzen Zeitspanne noch einmal exponentiell zunimmt. Was Deutschland sich selbst mit Hitler, seinen braunen Schergen und blinden Mitläufer angetan hat, manifestiert sich in diesem erzählerisch beeindruckend vermittelten und daher konkret vorstellbaren, aber zugleich unfassbar bleibenden Zerstörungsgrad dieser Stadt und ihrer Menschen.

Der Roman erschien erstmals 1947 und war Erich Weinert gewidmet. Diese Widmung und die Veröffentlichung des Romans im Karl Dietz Verlag zeigen deutlich, in welcher Tradition sich Heinz Rein verstand. Die schablonenhafte Figurenzeichnung, die wenig Graustufen zulässt, und seine Neigung zur vorbildhaften Figur, die im Kontrast mit amoralischen Schurkengestalten noch einmal aufgewertet wird, sind einem Anspruch geschuldet, der sich dem Sozialistischen Realismus verpflichtet fühlt. Weitere Schwächen sind sicherlich auch dem Umstand zuzuschreiben, dass der Roman in ausgesprochen kurzer Zeit niedergeschrieben sein muss. Aber das spricht alles nicht gegen ihn. Seine Wiederveröffentlichung in der Büchergilde Gutenberg im Jahr 1980 blieb weitgehend resonanzlos. Dass der Schöffling Verlag ihn jetzt im 50.  Gedenkjahr des Kriegsendes wieder veröffentlicht und mit einem lesenswerten Nachwort von Fritz J. Raddatz, einem seiner letzten Texte, auf den Markt gebracht hat, ist nicht nur ein Verdienst, sondern unter dem Strich auch ein Gewinn.


Heinz Rein: Finale Berlin. Roman. Mit einem Nachwort von Fritz J. Raddatz. – Frankfurt/M.: Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung 2015 (24,95 €)

 

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