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Bernhard Schlink: Olga

„Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.“

Überlegungen, die sich um erste Sätze ranken, sind Legion. Letztere sind bekanntlich von besonderer Bedeutung und haben, sind sie wohl überlegt gesetzt, das Potential, einen langen Roman zu strukturieren.Schlinks erster Satz aus einem neuen Roman Olga wird wohl nicht in die Reihe der schönsten Romananfänge eingehen. Mit Grass‘ „Isebill salzte nach.“, der vor rund elf Jahren einen Abstimmungswettbewerb der Stiftung Lesen zum gelungensten ersten Satz gewinnen konnte, kann er wohl nicht mithalten. Aber auch Schlink gelingt es, mit dem Erzähleinsatz den Grundton des gesamten Romans anzustimmen.

Das vorbehaltlose Schauen, Hinschauen entpuppt sich als Grundcharaktereigenschaften der Protagonistin, die ihr gesamtes Leben von der Kindheit bis zu ihrem Tod auszeichnet. ‚Auszeichnen‘ ist ein Verb, das auf eine Qualität hinweist. So soll es wohl auch vom Leser verstanden werden, und nichts ist dagegen einzuwenden. Olga Rinke, deren Lebenslauf man vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhundert verfolgt, entpuppt sich als Gegenentwurf zu all dem, was historisch zumindest bis 1945, wenn nicht gar darüber hinaus passiert ist, aber als stiller Gegenentwurf. Dabei bleibt sie den Zeitumständen verbunden und lässt dem Leser zugleich spüren, dass sie eben nicht alternativlos verlaufen sind.

Am deutlichsten wird das natürlich in ihrer Liebe zu dem reichen und unsteten Herbert, dem Sohn des Gutsherrn. Er wird erzählerisch von Beginn an als Antipode aufgebaut. Er ist eben niemand, der steht und schaut, sondern einer, der von Kleinkind an einen besonderen Bewegungsdrang hat. Er rennt. Das macht ihm das genauere Hinschauen schwer, und wird er in seinem Tatendrang zu einem in die Ferne Strebenden, der nicht bemerkt, gerade aufgrund dessen ein Mitläufer zu sein. Das lässt nicht an der Ernsthaftigkeit seiner Liebe zu Olga zweifeln, aber an seiner Fähigkeit, sie gegen alle Widerstände in die geordneten Verhältnisse einer Ehe zu überführen. Herbert, der permanent Gelegenheiten im Fernen sucht, zeigt sich vollkommen unfähig, sie im Nahen ergreifen zu können. Schließlich verliert er sich – schon im letzten Drittel des ersten Romanteils – bei einer von ihm initiierten Nordpolexpedition.

Olga aber bleibt ihm in Liebe verbunden, Sie, die es gegen alle Widerstände geschafft hat, Lehrerin zu werden, wenn auch in der ostpreußischen Provinz, wird schließlich Witwe ohne Trauschein und bleibt zeitlebens auf sich allein gestellt. In diesem Zusammenhang finden wir einen Grundtopos von Schlinks Romanen, nämlich die Unfähigkeit seiner Figuren, Bindungen abstreifen zu können, die sich aus den Lebenszusammenhängen ergeben und so etwas Schicksalhaftes bekommen. Das gilt für Schlinks Figur des Privatdetektivs Gerhard Selb aus den frühen Kriminalromanen wie für seinen bis dato letzten Roman Die Frau auf der Treppe (2014). Michael Bergs fatale Beziehung zur KZ-Wärterin Hanna Schmitz im Weltbestseller Der Vorleser (1995) ist da sicherlich nur das prominenteste Beispiel.

Dabei ist Olgas Schicksal sicherlich wenig spektakulär, hat in der Ruhe, mit der sie in ihrem Leben insgesamt vier Gesellschaftssysteme erlebt – das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das sogenannte Dritte Reich und die Bundesrepublik – aber durchaus ihren Reiz.Gleichwohl liegt darin auch die Schwäche des Romans. Mit diesem historischen Rundumschlag will Schlink schlicht zu viel Gerne hätte man mehr gelesen, wie Olga durch die Weimarer Republik gekommen ist, wie sich ihr Leben konkret veränderte, nachdem sie sich geweigert hatte, die von den Nazis verordnete Rasselehre zu unterrichten. Aber hier wie an der einen oder anderen Stelle mehr verweigert sich der Roman. Leider!

Dabei schlägt er inhaltlich wie auch formal einige durchaus interessante Volten. Erst ganz spät, im dritten Teil des Romans, lüftet sich das Geheimnis um den merkwürdigen Jungen Eik, den Olga als eine Art Ziehkind betreut, der aber ihr gemeinsames Kind mit Herbert ist. Ausgerechnet dieser Sohn entwickelt sich in den dreißiger Jahren zu einem glühenden Nazi, der als SS-Mann in Zweiten Weltkrieg stirbt.

Dass der Leser diese Zusammenhänge erst so spät erfährt, hat wiederum mit dem Erzählverfahren zu tun. Der Roman ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erfährt der Leser von einem ganz traditionell auktorialen Erzähler Olgas Lebenszusammenhänge bis in die frühe Nachkriegszeit hinein, als sie sich mittlerweile in der BRD als Büglerin verdient. Im letzten Satz kippt dann die Perspektive und um im zweiten Teil einen Ich-Erzähler agieren zu lassen, der sich als Chronist von Olgas Leben versteht. Dieser Ferdinand tritt, so gewinnt man den Eindruck, ein wenig an Sohnes Statt, und ist selbst ein so langweiliger Mensch, das er gerade dadurch schon wieder interessante Züge bekommt. Vor allem aber ist er die Gegenfigur zu den zahlreichen männlichen Tatmenschen, mit denen Olga in ihrem Leben zu tun hatte und deren Agieren nur Unheil stifteten. In einem dritten Teil dann finden sich nur die Briefe Olgas an ihren verschollenen Freund Herbert, konzentrieren sich also im Wesentlichen wieder auf die Zeit im Kaiserreich.

Das alles wird ansprechend, aber ohne große sprachliche Varianz erzählt. Eingängig ist es allemal. So ist es auch durchaus nachvollziehbar, dass Schlinks Olga sich wie die früheren Romane des Autors in den Verkaufsranglisten schon über einen längeren Zeitraum behauptet. Die Verfilmung, so darf vermutet werden, ist ihm gewiss. Es sind weiß Gott schon fragwürdigere Romane zu Drehbüchern umgearbeitet worden.


Bernhard Schlink: Olga. Roman. – Zürich: Diogenes Verlag 2018 (24.- €)