Axel Milberg: Düsternbrook

Hey, der traut sich was. Das war der spontane Gedanke, der mir in den Kopf schoss, als ich zum ersten Mal auf den Titel aufmerksam wurde. Die Assoziation, auf der sich dieser Gedanke gründete, war aber völlig unbegründet: Düsternbrook – Buddenbrooks. Aus dem lautlichen Gleichklang des jeweils zweiten Wortteils einen kalkulierten Zusammenhang abzuleiten, ist bei näherem Hinsehen Quatsch. Ein kleiner Trost: immerhin bin ich nicht der Einzige, dem sich dieser Zusammenhang aufdrängte. Hätte ich gewusst, was ich jetzt weiß, hätte sich dieser Gedanke wahrscheinlich auch niemals eingestellt. Düsternbrook ist ein nobler Ortsteil von Kiel, der Teil, wo nicht nur die Kieler Staatskanzlei und einige Landesministerien zu finden sind, sondern wo auch jene Kieler Bürger leben, denen es wirtschaftlich gut geht – heute wie vor fünfzig, sechzig Jahren, als der junge Axel Milberg dort aufwuchs.

Nein, außer den Wohlstand, der allerdings bei der Lübecker Kaufmannsfamilie dann doch noch etwas ausgeprägter zu sein scheint, haben die Buddenbrooks und die Milbergs nichts miteinander gemein. Halt, stop! Da gibt es in der Generation, die im Erzählkosmos des jeweiligen Romans den meisten Raum einnimmt, jeweils drei Geschwister, zwei Jungen, ein Mädchen. Aber das ist es nun wirklich, und alles ist Äußerlichkeit.

Das bürgerliche Bewusstsein ist allemal ein völlig anders. Axel Milbergs Vater ist erfolgreicher Scheidungsanwalt, der mit dem Slogan wirbt: „Kannst du deine Frau nicht leiden, geh zu Milberg, lass dich scheiden.“ Man stelle sich dergleichen Geschmacklosigkeit im Hause Buddenbrook vor – undenkbar! Man mag spekulieren, wie authentisch dieser Werbetext ist, der ja nun ein merkwürdiges Rollenverständnis transportiert. Mag sein, dass das erzählende Ich dem Vater, den es dem Leser nahezubringen versucht, darüber einen Seitenhieb mitgeben will. Denn was sich in dem Slogan als Verdinglichungstendenz gegenüber der Frau abbildet, findet durchaus seinen Niederschlag in der Ehe der Eltern, die in Düsternbrook gezeigt wird.

Mama war überarbeitet. Papa hatte seine acht Stunden im Büro und mittags eine Stunde geschlossen, aber Mama hatte nie geschlossen.

Mit solch knappen Bemerkungen, die niemals so ganz eindeutig zu erkennen geben, wer denn da spricht – das Kind, das eben nicht Mutter und Vater sagt, sondern Mama und Papa, oder der Erwachsene, der die Konkretheit des Alltäglichen zu verallgemeinernden Aussagen verarbeitet -, werden durchgängig klare Wertigkeiten verbunden. Die Mutter ist eine schillernde Figur, der der kleine wie auch der größer werdende Axel ungleich mehr zugeneigt ist als dem Vater. Das scheint durchaus wechselseitig zu sein, kann man sich doch als Leser des Eindrucks kaum erwehren, dass die Mutter diesen Sohn den anderen Geschwistern vorzieht. Da geht es manchmal auch durchaus gröber zur Sache, während sich Axel des mütterlichen Kokons immer gewiss sein kann.

Eine Art Kokon ist dieses Düsternbrook selbst auch, ein Ortsteil, so scheint es, der ein wenig aus der Zeit gefallen ist.

Es gab niemanden, der diese Welt hätte ändern wollen. Warum auch? So zu leben, wie wir lebten, wollten das nicht die meisten Menschen auf der Erde?

Es gibt gute Gründe, auf diese rhetorische Frage entschieden mit „Nein!“ zu antworten, aber dass ein bürgerliches Lesepublikum dem selbstbewusst oder wehmütig zustimmt, kann man ebenso nachvollziehen. Die Atmosphäre, die im Stadtteil wie auch im Hause Milberg immer wieder aufscheint, hat etwas Ambivalentes, das Distanzierung wie Annäherung quasi in einer Bewegung vereint.

In dieser Ambivalenz bewegt sich auch Axel Milberg durch die eigene Geschichte. Sie wird weithin chronologisch und in Stationen erzählt, von der frühen Kindheit bis in die frühen Studentenjahre, als die Entscheidung reift, Schauspieler werden zu wollen. Dabei erfährt man manches aus der Sozialisation des Wohlbehüteten, über die Mutter, die manchmal fremd wirkt in ihrem ab und an an Hysterie grenzenden Verhalten, die aber fast immer unverzichtbar ist, über die Schulzeit, über Malheurs und Unfälle, über Kinder- und Jugendfreundschaften, über den Wald von Düsternbrook zwischen Abenteuer und Bedrohlichkeit, über erste und weitere Lieben, über die Faszination von Erich von Dänikens Phantasien außerirdischer Intelligenz und die wegweisende Begegnung mit Gerd Fröbe, über den Wandel des Bewusstseins, mit dem der Erzähler sich durch seine Welt bewegt.

Aber, man erfährt nichts richtig. In den sehr kurzen, nur ganz selten mehr als zehn Seiten langen, meistens deutlich kürzeren Kapitel, wird alles nur angerissen. Viel zu viel verbleibt im Anekdotischen und endet, wo es erzählerisch interessant würde, es auszufabeln. Das offensichtliche Zuviel an Erinnerungssplittern wird erzählerisch nicht bewältigt, sondern additiv aneinander gereiht. Das wird weder Lesererwartungen an einen Roman, noch an eine Autobiographie oder an Memoiren gerecht. Es entsteht aber auch keine eigene überzeugende Erzählform, die man mit dem Kennzeichen „autofiktional“ ein Label geben könnte.

Es ist Zufall, dass Düsternbrook in zeitlicher Nähe zu Matthias Brandts Blackbird gelesen wurde. So aber entstand ein Gedanke, der ohne diese Nähe wahrscheinlich nicht aufgetaucht wäre. Wäre es nicht ein lohnenswertes Projekt für einen literaturwissenschaftlichen Grundkurs, würde man die jüngsten Bücher der beiden Schauspieler vergleichend lesen, um sich über Momente des Gelingens und des Misslingens von Literatur Klarheit zu verschaffen? Vor diesem Hintergrund wäre Düsternbrook dann sogar empfehlenswert.


Axel Milberg: Düsternbrook. Roman. – München: Piper Verlag 2019.

Bildnachweis

Urheber der Vorlage für das Beitragsbild, die den Dianenspiegel des Kieler Ortsteils Düsternbroook zeigt: Rüdiger Stehn [CC BY-SA 3.0]

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