Am 21. Dezember jährt sich zum 100. Mal Heinrich Bölls Geburtstag. Grund genug, sich noch einmal mit ihm zu beschäftigen. Es sollte dabei ein mir bis dahin unbekannter Roman von ihm werden, den ich neu kennenlernen wollte. SO hoffte ich, der Antwort auf die Frage ein Stück näher zu kommen, was er, Böll, mir heute noch sagen könne. Eine Frage, die sich meinem Eindruck nach auch deshalb stellt, weil Böll als Romanschriftsteller aus dem kulturellen Gedächtnis zu verschwinden scheint. Auch die durchaus zahlreichen Initiativen zum Gedenkjahr haben ja nicht zu einer Art Wiederentdeckung oder Renaissance seiner Werke geführt. Ja, da ist er noch, ab und an, der „politische“ Böll, auch der Satiriker und Autor zahlreicher Kurzprosatexte, die man, wenn auch seltener, in einschlägigen Schulbüchern findet. Aber der Romanschriftsteller? Der, der für „Ansichten eines Clowns“ den Nobelpreis erhielt? Aus all den Überlegungen heraus sollte es ein Text des eher frühen Böll werden, und so fiel die Wahl auf „Und sagte kein einziges Wort“ (1953). Es sollte eine zwiespältige Leseerfahrung werden.
Der Roman führt den Leser in eine Großstadt ganz am Anfang der 50er Jahre. Diese Stadt ist von jedem, der auch nur postkartenartige Bilder von Köln abrufen kann, unschwer als die rheinische Metropole zu erkennen. Zu stark ist das Geschehen rund um Dom und Hauptbahnhof gruppiert, als dass es möglich wäre, sich eine andere Stadtlandschaft vorzustellen. Dass die Stadt im ganzen Roman nicht beim Namen genannt wird, dass immer von der „Kathedrale“ statt vom Dom die Rede ist, erscheint als Versuch einer Verschleierung, der nicht recht trägt, der eher sogar stört.
Nicht zuletzt auch, weil mit den konkreten Bildern, die sich im Kopf des Lesers einstellen, eigentlich eine über die Zeiten hinweg reichende, große Anschauungsleistung verbunden ist. Denn die Vorstellungsbilder, die der Roman erzeugt, widersetzen sich beharrlich und nachdrücklich einer allzu forschen historisierenden Vorstellung von einer Nachkriegszeit in Deutschland, die sich im individuellen wie kollektiven Gedächtnis fast wie von selbst mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder verbinden. Aber nein, da waren Anfang der 50er Jahre keine neu erblühenden Stadtlandschaften, sondern da waren Wohnungsnot und Trümmer, und in diesen Trümmern lebten auch fünf, sechs Jahre nach Kriegsende noch Menschen. Schaut man sich Bilder von kriegszerstörten Köln an, so wird klar: Es konnte beim Grad einer solchen Zerstörung nach 1945 gar nicht anders sein. Dennoch sind die landläufigen Bilder andere, und genau dagegen sperrt sich eindrucksvoll Und sagte kein einziges Wort.
Es war Bölls zweiter veröffentlichter Roman nach Wo warst du, Adam (1951). Bekannt war der Autor zu diesem Zeitpunkt noch nicht so recht, wenn dann eher als Autor kürzerer Erzähltexte und Satiren. Vom Durchbruch auf jeden Fall noch keine Spur, auch wenn der ihm 1951 verliehene Preis der Gruppe 47 Aufmerksamkeit und Anerkennung verschaffte. Wenn im Roman von Geldnöten und Armut die Rede ist, so muss man leider davon ausgehen, dass Böll aus eigener Anschauung erzählen konnte.
Die Handlung von Und sagte kein einziges Wort erstreckt sich über zwei Wochenendtage zwischen dem 30. September und 2. Oktober 1950. Der Leser begleitet den Telefonisten Fred Bogner im ersten Kapitel in die Lohnstube, wo er sein Wochengehalt in Empfang nimmt. Das dem heutigen Girokontenbesitzer befremdliche Prozedere ist, wie man schnell merkt, nicht das Problem der männlichen Hauptfigur. Seines ist die Abwesenheit der Familie. Bogner steckt sein Gehalt in ein Kuvert und veranlasst, dass es seiner Frau zugestellt wird – und gleich ist der Leser hineinversetzt in die ihm befremdliche erscheinende Situation. Dem zeitgenössischen Leser ging es da wohl kaum anders. Stereotype Abläufe wie eben die Lohnauszahlung münden ein in verstörende Lebenssituationen und drängen nach einer Klärung des Warum.
Fred Bogner lebt nicht zuhause bei Frau und Kindern, weil er es in der Enge der Wohnung mit ihnen nicht aushalten kann. Diese früh geklärte Ausgangslage wird in der Folge immer weiter aufgefächert. Vorangebracht wird dabei die Handlung durch zwei Ich-Erzähler, eben durch die Hauptfigur und durch seine Frau Käte, die abwechselnd aus ihrer jeweiligen Sicht die fatale Lage schildern, in der sich die Ehe befindet. Ein zentrales Problem ist dabei die drückende Wohnungssituation. Als Untermieter müssen sie sich mit zwei hellhörigen Zimmern arrangieren, die nicht einmal die regelmäßigen Beischlafgeräusche der Nachbarn absorbieren können. Zudem werden sie auch noch regelrecht schikaniert. Andere leben zwar, wie der Roman zu zeigen versteht, noch erbärmlicher, aber hier spitzt die Enge der Lebensverhältnisse weitere Belastungsfaktoren zu. Da sind vor allem Bogners unausgesprochene Kriegstraumata, die sich, wie man heute sagen würde, als posttraumatisches Belastungssyndrom Bahn brechen. Er wird Alkoholiker, er spielt, es kommt zu Gewaltausbrüchen – und das, obwohl er seine Frau und die Kinder über alles liebt. Sein Auszug aus der gemeinsamen Wohnung ist vor diesem Hintergrund weniger Flucht als vielmehr der verzweifelte Versuch, weitere zu Gewalt führende Gefühlseskalationen zu vermeiden. Nur am Wochenende trifft er sich mit Käte. Ebenso absurd wie zugleich brutal real, geht er dann mit ihr ins freie Feld oder – wie an diesem Wochenende – in ein schäbiges Hotel, um mit ihr zu schlafen.
Käte ist ohne Zweifel die stärkere von beiden. Sie sieht die desolate Situation, in der sie sich befinden, nüchterner, schonungsloser, ohne auch selbst irgendeinen Zweifel an der Liebe zu ihrem Mann zu haben. Ihr gelingt es mit deutlich größerer analytischer Schärfe als ihrem Mann, dabei ihre Armut als das eigentliche Grundübel auszumachen. Ihre Armut gründet aber nicht im Fehlen regelmäßigen Einkommens, sondern im Fehlen von Eigentum, von Besitz. Fred Bogner arbeitet ja als Telefonist in einer kirchlichen Einrichtung; im Roman gibt es keinerlei Anhaltspunkte, dass das Einkommen nicht grundsätzlich reichen könnte. Aber Wohneigentum fehlt, das der Familie stabile Verhältnisse bieten könnte.
Hier entwickelt der Roman in besonderer Weise sein gesellschaftskritisches Potential. Denn neben den sozial Abgestiegenen gibt es mittlerweile wieder die Gewinnler, die wie Fettaugen auf den Verhältnissen schwimmen. „Auferstanden aus Ruinen“, ich weiß, es war durchaus anders gemeint, im skizzierten erzählerischen Kontext entwickelt eine derart hohle Parole aber ihre ganze Fragwürdigkeit. Böll verbindet in Und sagte kein einziges Wort diesen Zusammenhang – wie in seinen späteren Romanen auch – mit seiner Kritik am Herrschaftsgebaren der katholischen Kirche, in dem Einfluss und Honoratiorenwirtschaft den existenziellen Glaubensfragen übergeordnet werden.
So führt dann nahezu zwangsläufig die soziale Krise des Ehepaars Bogner auch zur Glaubenskrise. Eingebunden und verwurzelt in den religiösen Praktiken des rheinischen Katholizismus erleben beide in unterschiedlichen Abstufungen, dass sie ihren Glaubensbezug verlieren. Sie suchen den Trost in der Kirche, erleben aber – und zwar sicher auch gerade deshalb -, dass sie Gefahr laufen mit ihrem Glauben auch ihren existenziellen Halt zu verlieren.
Das Wiedersehen des Ehepaars in dieser sich euphemistisch Hotel nennenden Absteige in Bahnhofsnähe führt nach langen (und den Leser durchaus auch ermüdenden) Gesprächen dazu, dass Käte für alle Betroffenen keinen anderen Ausweg sieht als die Trennung. Der Roman endet jedoch damit, dass Fred Bogner schließlich die Rückkehr zur Familie ernsthaft ins Auge fasst. Dieser Romanschluss scheint in der Rezeption oft durchaus als zuversichtliches Ende aufgefasst worden zu sein, als der Streifen Licht, der sich am Horizont abzeichnet. Das ist eine Lesart, die sich mir verschließt. Zu schonungslos ist in den Gesprächen zwischen den Ehepartnern die Selbsteinsicht, zu wenig erkennbar, wie sich zentrale Rahmenbedingungen ändern sollten durch bloße Absichtserklärungen. Die Liebe zueinander hat nicht verhindern können, dass sie in diese Sackgasse hineingeraten sind. Wie sollte es sich ändern, wenn sich zeigt, dass sie den Verhältnissen nicht entgegensetzen können?
Schau ich zurück auf das Geschriebene, so hat es vielleicht den Anschein, als habe mich der Roman bewegt. Doch gerade das hat er nicht. Er besticht als zeithistorisches literarisches Dokument, das hilft, oberflächliche Vorstellungen vom Nachkrieg in Frage zu stellen, ohne Zweifel. Er dokumentiert auch, warum Böll als wichtige soziale und politische Stimme in der Bundesrepublik (und darüber hinaus) zu Geltung kommen konnte. Trotzdem, die Figuren bleiben fremd in ihrem Verhalten, in ihrer Denkweise. Vielleicht war mir, dem zutiefst katholisch Sozialisierten, das Ganze zu katholisch. Mag sein, beim Lesen habe ich es aber nicht so empfunden. Deutlich gespürt habe ich aber eine wachsende Ermüdung. Irgendwann war die Situation der Eheleute klar, ihre hilflose Liebesgewissheit, ihre Gefährdung und Ausweglosigkeit, aber sie war noch nicht zu Ende erzählt und wurde so immer reizloser. Am Ende blieb schließlich neben eine Reihe erhellender Einsichten in die Zeit das gar nicht so geringe Gefühl der Langeweile.
Heinrich Böll: Und sagte kein einziges Wort. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 212012 (dtv. 12531) – (9,90€)
Bildnachweis: Pixabay