Henning Mankell: Der Sprengmeister (1973) / Der Sandmaler (1974)

Mankell, Sprengmeister-Sandmaler

Man muss nicht jeden Notizzettel eines Schriftstellers veröffentlichen, sei er auch noch so bekannt und bedeutend. Erst recht bedarf es nur ganz, ganz selten der Einordnung solcher Notate in das literarische Oeuvre eines Autors. Denn ein solches Unterfangen nimmt manchmal merkwürdige, ja skurrile Züge an. Bemüht sich aber ein Verlag darum, das literarische Werk eines Schriftstellers vollständig zu veröffentlichen und Lücken im Publikationsverlauf zu schließen, die gerade bei fremdsprachigen Autoren immer wieder vorkommen, dann ist das zu begrüßen.

Solcherart Lücken scheint der Zsolnay Verlag beim umfangreichen Werk Henning Mankells schließen zu wollen, da er innerhalb von Jahresfrist zwei seiner frühen Romane auf den deutschsprachigen Markt brachte. Im August 2017 erschien Der Sandmaler, Mankells damals zweiter Roman aus dem Jahr 1974. Im Juli 2018 folgte sein Debütroman Der Sprengmeister aus dem Jahr 1973. Beide Romane dokumentieren auf ihre eigene Weise die Anfänge einer Schriftstellerkarriere. Sie werfen im Rückblick gelesen ein spannendes Licht auf die Werkentstehung und -entwicklung Henning Mankells und erzählen, das sollte nicht vergessen werden rechtzeitig zu erwähnen, durchaus interessante Geschichten.

Der Arbeiter

Vertraut und fremd zugleich erscheint der erste Roman Der Sprengmeister. Vertraut, weil auch schon in diesem ersten Roman Mankells soziales Engagement für die Unterprivilegierten, sein engagiertes Eintreten für die Belange der Entrechteten und Zukurzgekommenen deutlich wird.

Vertraut auch, weil schon früh diesem Engagement Skepsis eingeschrieben ist. Denn die Revolutionshoffnungen, die die Hauptfigur Oskar Johansson äußert und von denen er sich ein weites Stück seines Lebens leiten lässt, werden von Beginn als als reichlich illusionsbehaftet dargestellt.

Vertraut ist der Roman darüber hinaus aufgrund eines hier schon verwendeten Landschaftstopos, das die Romane Mankells durchziehen wird, des Schärengürtels vor Stockholm. Eine Insel, eigentlich mehr ein Fels, wird zum Rückzugsort des alten Oskar Johannson. Genau das, ein Rückzugsort, sind die Schären auch noch im letzten Roman Die schwedischen Gummistiefel (2015; dt. 2016) und in einigen früheren Romanen, so unter anderem in Tiefe (2004; dt. 2005) oder im letzten Wallander-Roman Der Feind im Schatten (2009; dt. 2010). Im Werkzusammenhang wird dieser Raum, der dem offenen Meer im Osten vorgelagert ist, aber das Pulsierende der Metropole Stockholm schon hinter sich gelassen hat, zwar immer bedeutungsschwerer, am Ende in Die schwedischen Gummistiefel ein Ort schließlich im Übergang zum Mythischen, aber angelegt sind diese Erzählelemente offenbar schon von Beginn an bei Mankell.

Fremd aber erscheint der Roman dem Mankell-Leser zugleich, weil er sich eines Arsenals moderner Erzählverfahren bedient, die man in der Mehrzahl der späteren Romane so nicht mehr findet. Kennt man Mankell als einen Romancier, der sich, in den Kriminalromanen natürlich auch genrebedingt, in eher traditionellen Erzählverfahren bewegt, dem Linearität und Chronologie wichtige Instrumente sind, um Leser breitenwirksam zu erreichen, ist erstaunt über die Montage unterschiedlicher Perspektiven, über das Spiel mit unterschiedlichen Zeitebenen, über erlebte Rede und Dokumentarstil.

Erzählt wird – das muss nun endlich nachgeholt werden – die Lebensgeschichte des den Titel ausmachenden Sprengmeisters Oskar Johansson, der 1888 geboren wurde und 1969 starb. Das Jahr 1911 bringt den entscheidenden Einschnitt in sein Leben, als er bei einem Sprengunfall zwar wie durch ein Wunder überlebt, aber fortan körperlich schwer gehandicapt und entstellt ist.

An diesem Samstagnachmittag im Juni 1911 verlor Oskar Johansson alle seine blonden Haare. Das linke Auge wurde durch die Druckwelle aus der Höhle gerissen Die rechte Hand direkt am Handgelenk vom Arm getrennt. Ein Splitter schnitt die Hand mit nahezu chirurgischer Präzision ab. Ein weiterer Splitter schoss wie ein glühender Pfeil direkt durch Oskars Unterleib, beschädigte das Glied und drang durch die Leiste, die Niere und die Urinblase wieder aus dem Körper heraus.

Aber Oskar Johansson überlebte und blieb Sprenger, bis er in Rente ging, und er verstarb am 9. April 1969.

Der Blick des Erzählers auf den Unfall ist gerade aufgrund seiner Nüchternheit so erschütternd. Dieser sachliche Tonfall bleibt, wenn der Erzähler in immer neuen Schleifen sich dem Leben Johanssons nähert, vom Scheitern der ersten Liebesbeziehung berichtet, aber ebenso von der späteren Heirat, einer durchaus als glücklich zu bezeichnenden Ehe mit drei Kindern, einem entbehrungsreichen und zugleich von einer inneren Zufriedenheit und nahezu ungebrochenen Zuversicht geprägten Leben. Er betreibt eine Art Lebensrecherche, die sich im wesentlichen speist aus der persönlichem Bekanntschaft zwischen ihm und dem Protagonisten seit Mitte der 50er Jahre bis zu dessen Tod. Der Erzähler besucht ihn regelmäßig in den Schären, wohin sich der alte Johansson immer von April bis in den Herbst hinein zurückzieht. Warum genau er das tut, woher die Bekanntschaft rührt, welche Beziehung die beiden Figuren zueinander haben, wird leider nicht auserzählt. Die Ausgestaltung des Erzählers als Handlungsträger bleibt in dem Erstling schwach und überzeugt nicht ganz.

Ansonsten aber gelang Mankell mit Der Sprengmeister ein überzeugendes und erzählerisch interessantes Debüt, dessen Entdeckung durch den deutschsprachigen Leser wirklich lohnt.

Die Touristin

Nur ein Jahr später, 1974, legte Henning Mankell mit Der Sandmaler nach und wandte sich in diesem nur gut 150 Seiten langen Roman dem Thema zu, das zukünftig zu seiner Lebensaufgabe werden sollte: Afrika. Biographischer Auslöser für den Roman war wohl sein erster Aufenthalt auf dem Kontinent im Jahr 1972. Die Beobachtungen und Erfahrungen sind offensichtlich sehr unmittelbar in den Roman eingeflossen – und das erweist sich für die literarische Gestaltung als nicht ganz unproblematisch.

Mankell erzählt von zwei jungen Menschen, die gerade ihr Abitur gemacht haben. Kurz vor Ende der Schulzeit hatten sie eine kurze und oberflächliche Beziehung miteinander. Dass sich Stefan und Elisabeth zu Beginn des Romans auf dem Flug nach Afrika wieder treffen und feststellen, dass sie am gleichen Ort ihren Urlaub verbringen werden, ist allerdings Zufall. Stefan ist ein Sohn aus wohlhabendem Haus, jemand, der sich um seine materielle Zukunft keine Sorgen zu machen braucht und dem die Dinge in den Schoß fallen. Elisabeth, die eigentliche Hauptfigur des Romans, ist deutlich weniger auf Rosen gebettet, musste sich den Urlaub verdienen und sorgfältig haushalten. Während ihr ehemaliger Freund in einem noblen und hermetisch abgeschlossenen Ressort die Urlaubstage verbringt, ist sie vor Ort in deutlich bescheideneren Verhältnissen untergebracht.

Stefan erweist sich als ausgesprochen oberflächlicher Mensch, sucht allein das Vergnügen und begegnet dem, was er an sozialen und kulturellen Beobachtungen macht, mit einem ausgeprägt rassistischen und menschenverachtenden Blick.

Eine gute Stunde saß er mit seinem selbstsicheren Lächeln da, die Gesichtszüge ordentlich zurechtgelegt, und betrachtete alles, was rings um ihn geschah. […] Natürlich schaute er besonders auf die Mädchen und versuchte, irgendwo einen Blick zu erhaschen. Einen Blick, der nicht gleichgültig und flüchtig war, sondern etwas mehr versprach. […] Aber hauptsächlich musterte er natürlich die schwarzen Mädchen. Einige von ihnen arbeiteten im Hotel, und sie waren ziemlich attraktiv – abgesehen von ihren scheußlichen Haaren. Massenhaft Locken, die vom Kopf abstanden.

Er fühlte sich auf eine unverschämte Weise geil. Für einen weißen Typen mit reichlich Kohle gab es hier in den Nächten bestimmt genügend Abwechslung. Gut, dass ich den Bungalow habe, dachte er. Bei einem Hotelzimmer hätte ich vielleicht Probleme, ein Mädchen mitzunehmen.

Elisabeth bildet im Roman mit ihrer aufgeschlossenen Art den Einheimischen und ihrem Leben zu begegnen, das charakterliche Gegengewicht. Sie bemüht sich darum, das Land und die Menschen kennenzulernen und zu verstehen. Mit diesem Anliegen findet sie Kontakt zu einem Lehrer aus ihrer Reisegruppe, der sie auf historische Hintergründe dessen, was sie beobachtet, hinweist, insbesondere auf koloniale Zusammenhänge. Außerdem findet sie Kontakt zu einem Jungen aus den Wellblechvierteln der Stadt, der sie in die ärmsten Viertel führt und Elisabeth Einblick gewährt in konkrete familiäre Verhältnisse.

Auf diese Zusammenhänge bezogen bleibt der Roman insgesamt recht handlungsarm. In vielerlei Passagen nähert er sich einem literarisch überformten Reisebericht. Das ist aber nicht das Problem von Der Sandmaler. Er überzeugt in sehr weiten Passagen nicht, weil er in manchmal schon aufdringlicher Weise mit Klischees arbeitet. Es ist nicht nur so, dass die Figuren, wie sich in der Inhaltsschilderung schon andeutete, ausgesprochen stereotyp angelegt sind. Stefan ist von Beginn an ein Arschloch, und er bekommt erzählerisch auch nie die Chance, diese Rolle zu verlassen. Elisabeth ist dem gegenüber die Herzensgute, die Empathische, die nur ihren Blick erweitern muss, um die desaströsen Verhältnisse in dem afrikanischen Land richtig wahrnehmen zu können. Die Verstehensangebote, die ihr dabei gemacht werden, wirken aber so blutleer, als seien sie aus einem faden Sachbuch über Kolonialgeschichte abgeschrieben. Nein, so ehrenwert und berechtigt Mankells Anliegen auch sind, literarisch greift hier das Goethe-Bonmot: Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt.

Frühe Konstellationen

Nun könnte man auf den literaturkritischen Gemeinplatz verweisen und meinen, das dem Debüt folgende Buch habe es immer schwerer zu überzeugen. Aber das ist es nicht, was Der Sandmaler in der Zusammenschau mit Der Sprengmeister wieder interessant macht. Erwähnt wurde oben schon, was im Debütroman den „typischen Mankell“ erkennen lässt, und die Aspekte sind sicherlich nicht vollzählig erwähnt.

Hier aber tut sich ein weiteres Phänomen im Vergleich der beiden Frühwerke auf, nämlich dass die sogenannten Afrika-Romane Henning Mankells literarisch durchweg weniger überzeugen als seine anderen Bücher. Zumindest gilt das für jene Afrika-Romane, die nicht auf eine eher jugendliche Leserschaft hin geschrieben wurden wie zum Beispiel Der Chronist der Winde (1995; dt. 2000) oder die Sofia-Trilogie (zwischen 1997 und 2008). Aber Tea Bag (2001; dt. 2003), Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt (2003; dt. 2004) und erst recht Erinnerung an einen schmutzigen Engel (2011; dt. 2012) leiden an Stereotypisierungen und Klischees, die dem nicht hoch genug zu schätzenden Anliegen, Schwarzafrika eine Stimme zu verleihen, literarisch gerade nicht zuarbeiten.

Freilich, es ist viel mehr eine Hypothese als ein fundierter Nachweis, dem dieser Eindruck zugrunde liegt. Aber es scheint doch manches dafür zu sprechen, dass es schwer zu sein scheint, mit europäischer Herkunft und Blickwinkel das literarisch zu greifen, was Afrika im Inneren ausmacht. Wie sich das bei Henning Mankell gestaltet hat, müssen andere, wenn sie denn wollen, untersuchen. Aber dafür wäre es ein Gewinn, wenn wir in den nächsten Jahren auch die übrigen noch nicht auf Deutsch erschienenen Romane kennenlernen dürften.


Henning Mankell: Der Sprengmeister. Roman. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel und Annika Ernst. – Wien: Paul Zsolnay Verlag 2018 (21.- €)

Henning Mankell: Der Sandmaler. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. – Wien: Paul Zsolnay Verlag 2017 (20.- €)

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